54. Nordische Filmtage Lübeck 2012
Moderne Hexenjagd
„Die Jagd“ (Thomas Vinterberg, DK 2012)
Das Publikumsinteresse war Thomas Vinterbergs jüngstem Film auf den NFL 2012 sicher. Der Regisseur des ersten und vielleicht bekanntesten, regelgerechtesten und einflussreichsten Dogma-95-Films „Das Fest“ (DK 1998) hat mit „Die Jagd“ einen vielbeachteten Beitrag für den Wettbewerb in Cannes abgeliefert – den ersten dänisch-sprachigen Film seit 1998, dem die Teilnahme vergönnt war. Dänemarks Schauspiel-Ikone Mads Mikkelsen räumte den Darstellerpreis ab, und der Film war wohl ein scharfer Konkurrent zu Michael Haneckes ebenso kontroversem Cannes-Gewinner „L’Amour“ (FR 2012). Bei den NFL 2012 konnte sich Vinterberg gleich über drei Preise freuen. „Die Jagd“ erhielt neben dem NDR Filmpreis (ex aequo mit Gabriela Pichlers „Eat Sleep Die“) auch den Publikumspreis der Lübecker Nachrichten und den Baltischen Filmpreis.
Kindergärtner Lucas (Mads Mikkelsen) lebt nach der Trennung von seiner Frau alleine in seinem Heimatdorf. Sein Sohn wohnt bei der Mutter. Trotz Scheidung lebt Lucas in einer Idylle, er ist fest verwurzelt in der dörflichen Gemeinschaft, und es bahnt sich eine Liaison mit der attraktiven Kollegin an. Eine unbedachte Äußerung seines Kindergarten-Schützlings Karla, Tochter seines besten Freundes, bringt Lucas in den Verdacht der Kindesmisshandlung und setzt eine hysterische Kampagne in Gang, die sich in einer fatalen Logik unaufhaltsam und lawinenartig steigert. „Die Jagd“ lässt für den Zuschauer keine Zweideutigkeiten aufkommen, Lucas ist unschuldig. Wie schnell aber aus einer kindlichen Äußerung oder verschämtem Schweigen ein Anfangsverdacht keimt, der bald in scheinbare Gewissheit umschlägt, beschreibt der Film in beklemmenden Szenen. Allzu bereit scheinen die Kollegen und Eltern dem Verdacht der Kindergartenleiterin zu glauben, der sich nur auf ein unprofessionell geführtes Gespräch mit Karla stützt. Plötzlich meinen viele Eltern, im Verhalten ihrer Kinder Hinweise auf Misshandlungen zu erkennen. Lucas wird sofort suspendiert, und der Ausschluss aus der Dorfgemeinschaft folgt auf dem Fuße. Doch dabei bleibt es nicht, Lucas wird tätlich angegriffen und muss um sein Leben fürchten. Die Polizei kann zwar die vermeintlichen Indizien entkräften, aber die Dorfbewohner beeindruckt das wenig.
Unschuldig verdächtigt: Mads Mikkelsen in „Die Jagd“ (Foto: NFL)
Vinterberg kehrt nach seinen erfolglosen Ausflügen in komplexes Arthouse-Kino zurück zu bodenständigen Sozial- und Familendramen. Bereits 2010 konnte er auf der Berlinale mit dem düsteren „Submarino“, der Geschichte zweier Brüder, die an einem tragischen Unfall in ihrer Kindheit als Erwachsene zu Grunde gehen drohen, im Wettbewerb überzeugen. „Die Jagd“ brilliert in mehrfacher Hinsicht, als (Ver-) Fall einer vermeintlich fest gefügten Gemeinschaft und als Thriller in bester Wrong-Man-Tradition a la Hitchcock. Das straffe Drehbuch und Mads Mikkelsens hervorragendes, unprätentiöses Spiel entfalten einen Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Bis zur allerletzten Szene bleibt der Ausgang ungewiss, die Spannung erhalten. Vinterberg gibt dem Zuschauer zu denken, kehrt die Situation in den allermeisten Filmen zu diesem Thema radikal um. Die Bereitschaft auch unserer heutigen Gesellschaft zu einer Hexenjagd ist immanent und im Film glaubwürdig dargestellt.
„Die Jagd“ provoziert Diskussionen, die der Achtsamkeit gegenüber Kindesmisshandlung in keiner Weise schaden werden. Vinterberg aber fordert dieselbe Achtsamkeit gegenüber den Beschuldigten, denn von dieser schlimmsten aller Anklagen kann sich auch ein Unschuldiger nie mehr befreien. (dakro)
„Die Jagd / Jagten“, DK 2012, 111 Min., Regie: Thomas Vinterberg, Buch: Tobias Lindholm, Thomas Vinterberg, Darsteller: Mads Mikkelsen (Lucas), Thomas Bo Larsen (Theo), Annika Wedderkopp (Klara), Lasse Fogelstrøm (Marcus), Susse Wold (Grethe), Anne Louise Hassing (Agnes), Lars Ranthe (Bruun), Alexandra Rapaport (Nadja), Sebastian Bull Sarning (Torsten). Trailer auf YouTube