54. Nordische Filmtage Lübeck 2012
Herrlich absurd bis blöde albern
„Fraktus“ (Lars Jessen, D 2012)
H.P. Baxter von Scooter, Jan Delay, die Mayday-Legende Westbam, Stefan Remmler von den „Da Da Da“-NDW-Veteranen Trio, sogar Blixa Bargeld, Ikone der Einstürzenden Neubauten, sind sich einig: „Ohne Fraktus wäre ich nie zur Musik gekommen“, wären Neue Deutsche Welle, Techno oder Acid House, ja die gesamte (elektronische) Pop-Musik der 80er und 90er nie entstanden. Doch das Trio aus Brunsbüttel, das den Techno-Sound noch auf analogen Instrumenten wie dem Fön-Dudelsack erfand, ist nach seinem sagenhaften und musikalische Visionen eröffnenden Erfolg in den frühen 80er Jahren verschollen, wie vom Erdboden verschluckt, man hat nie wieder etwas von ihnen gehört. Bis sich Roger Dettner, Talent-Scout eines großen Hamburger Musik-Labels, aufmacht, die fantastischen Drei nicht nur aufzuspüren, sondern auch für ein Revival zusammenzuführen.
Als Doku über eine musikalische (Wieder-) Entdeckung kommt Lars Jessens „Fraktus“ zunächst daher. Und läse man nicht in den Credits zum Film, dass das Drehbuch vom Anarcho-Spaß-Trio Studio Braun stammt, wunderte man sich auch nicht darüber, dass Roger Dettner dem Schauspieler Devid Striesow mehr als ähnlich sieht, könnte diese Illusion gut ein Drittel des Films anhalten. Spätestens dann aber schwant einem, dass alles nur ein Fake, ein Mockumentary ist, dass es Fraktus nie gegeben hat. Aber eben gegeben haben könnte – so „authentisch“ porträtiert Jessen nicht nur die oben zitierten Gewährsleute, sondern auch die Musikindustrie. Dass die Stars aus dem Nichts schöpft, wissen wir nicht erst seit DSDS, schon Frank Farian schuf sich einst mit Boney M. die bühnenwirksamen Marionetten für seine Studio-Kopfgeburten.
Bereit zum Revival: Fraktus (aka Studio Braun: Rocko Schamoni (1. von links), Heinz Strunk (2. von rechts) und Jacques Palminger (1. von rechts)) und seine Manager (u.a. Devid Striesow, 3. von rechts) (Foto: NFL)
Der „Fake“ also ist in seiner ganzen Absurdität des Musik-Business perfekt gelungen und trägt den Film in seinem ersten Drittel höchst amüsant, ja, auch einblicksreich. Doch dann begleitet die pseudo-dokumentarische Wackel-Action-Kamera Musik-Scout Dettner zur Wiedervereinigung von Dirk „Dickie“ Schubert (Studio-Braun-Mitglied Rocko Schamoni), Bernd Wand (Studio-Braun-Mitglied Jacques Palminger) und Torsten Bage (Studio-Braun-Mitglied Heinz Strunk) nach Ibiza, wo letzterer – so der Doku-Fake – zusammen mit Knallchargen wie Willi Herren und einer illustren Schar von Jürgen-Drews-Soundalikes die Sangria-schwangeren Urlauber-Diskos beschallt.
Das Wiedersehen der drei Techno-Pioniere fällt chaotisch aus, ist geprägt von Eifersüchte- und pubertären Prügeleien. Auch im Drehbuch von Studio Braun herrscht ab hier Anarchie, wie wir sie von ihren Bühnenauftritten und schadenfreudigen Telefonstreichen her kennen. Vieles scheint gar gänzlich improvisiert. Wogegen nichts einzuwenden wäre, mündete es nicht allzu oft in albernen Klamauk, der manche Längen zu überbrücken versucht. Auf die Hälfte und um diese Szenen gekürzt, hätte der Film echt Drive.
Im letzten Drittel, wenn Fraktus ihr (freilich scheiterndes) Comeback feiern, gewinnt er diesen wieder, nimmt Fahrt auf bei der schwindelnden Reise durch ein Business, das wie die Banken mit Luftbuchungen und ungedeckten Schecks auf den Erfolg handelt. Hier gelingt Jessen eine hinter der schrill-absurden Oberfläche durchaus auch tiefsinnige Persiflage auf das Musik-Business, das seine Stars ebenso schnell schafft, wie es sie wie heiße Kartoffeln wieder fallen lässt. Ein Film voller feiner Ideen, die aber oft auf das selbst ausgelegte Glatteis führen. Die – gefakten – Songs von Fraktus wie „Affe sucht Liebe“ oder „All die armen Menschen“ haben aber durchaus Hitpotenzial (auf der Website www.fraktus.de gibt es sie sogar schon als Handy-Klingeltöne). Mal schauen, ob der Fake des musikindustriellen Fakens auch realiter die Furore macht, die er Fraktus postum andichtet. (gls)
„Fraktus“, D 2012, 95 Min., Regie: Lars Jessen, Buch: Studio Braun (Jacques Palminger, Rocko Schamoni, Heinz Strunk), Ingo Haeb, Sebastian Schulz, Lars Jessen, Kamera: Oliver Schwabe, Darsteller: Devid Striesow (Roger Dettner), Heinz Strunk (Torsten Bage), Jacques Palminger (Bernd Wand), Rocko Schamoni (Dirk Eberhard „Dickie“ Schubert), Produktion: Klaus Maeck / Corazón International, Verleih: Pandora Filmverleih. Förderung: u.a. Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein (FFHSH). Infos zum Film: www.fraktus.de. Kinostart: 8.11.2012
„Fraktus“ bei den NFL: Freitag, 2.11.2012, 19.45 Uhr, CineStar 7 / Samstag, 3.11., 22.30 Uhr, Kolosseum