16. Filmfest Schleswig-Holstein – Augenweide 2012
Filmfenster zu anderen Welten
Eindrücke vom Kurzfilmabend der Augenweide (ad eins)
„Heimatfilm“ ist das Paradigma, welches das Filmfest Schleswig-Holstein – Augenweide nun schon seit einigen Jahren prägt, so auch in diesem. Gleichwohl wird die „Heimat“ in einer zunehmend globalisierten Welt immer mehr zu einem wenn nicht fraglichen, so doch hinterfragten (und hinterfragbaren) Konzept einer verlorenen oder auch immer verlierbareren Welt.
So siedelt Kay Otto sein (gleichnamiges) Musikvideo für die Band „Supershirt“ bewusst in der Provinz der Provinzen an, wo selbst verbotenes Graffiti-Sprühen an der örtlichen Bushaltestelle (angelaufen höchsten dreimal am Tage) im Sprühnebel keiner Gefahr verraucht. Die Band stammt aus Graal-Müritz, das liegt in der Nähe von Rostock in Mecklenburg-Vorpommern, dem zumindest dem Vorurteil nach wohl provinziellsten Bundesland der Republik. Allein, jener verlassene Acker lässt sich am besten von den durchdrehenden Hinterreifen eines Mopeds der Ost-Traditionsmarke Simson durchpflügen, zumal wenn punkige Mädels, die wie wiedergeboren aus den 80ern, am Gashebel drehen. Einer der „Langweiligsten Orte der Welt“, wie der Song titelt. Action in der Einöde, Aufbegehren gegen das Drückende der Provinz, drei Mädchen, die, wenn nicht auf sie, doch wenigstens in ihr abfahren. Im Herbst, der trübsten Zeit der Jahre und norddeutschen Länder, war Otto da – und hat ein Video voller verhaltener Ausbruchsenergie auf die Leinwand gebracht. Provinz, wir kommen wieder, wir transformieren dich in die weite (Anders-) Welt …!
Andere Welten spannen Erinnerungen auf. Der begabte Jungfilmer Friedrich Tiedtke protokolliert solche in der höchst professionell wirkenden Independent-Produktion „Erinnerungen an den Sommer“ atmosphärisch feinfühlig. Eine ältere Frau wird von ihrem Sohn und seiner schwangeren Gattin an einen Waldort entführt, der ihr einst wichtig war. Denn dort ereignete sich vor einigen Jahrzehnten der erste Kuss mit jenem, der – Pause: Wir finden allmählich in die Gegenwart der Vergangenheit – sie dann überwältigte, wenn nicht vergewaltigte. Erste Liebe, ihr Zauber, gespiegelt in dem jungen, schwangeren Paar, wandelte sich zum Missbrauch. Aus ihm entstand gleichwohl ihr Sohn, den sie doch so liebt, ebenso das im Leib der Schwiegertochter wachsende Enkelkind. Leise, idyllisch, mit unschuldigem Vogelzwitschern und Wälderrauschen auf der Tonebene und weichzeichnendem Blätterfall vor der Szenerie erzählt Tiedtke diese kleine, schlimme Geschichte, macht so die vertraute Heimat des Liebens, der ersten Annäherung, zum Anderort des unbewältigten Grauens …
Heimatwelten sind aber zuweilen auch skurril. Mit sicherem (Kamera-) Auge und elegant flinker Montage und gewohnt kongenialer Filmmusik (Christopher Evans-Ironside) fangen Gerald Grote und Claus Oppermann in ihrem „Dogumentarfilm“ „Go to the Dogs“ ein Dackelrennen in Itzehoe ein. Formel-1-Showdown auf der grünen Country-Wiese, voller Komik, wie die Kurzgebeinten um den Rekord-Sieg in 5,75 Sekunden auf 50 Meter rennen – oder auch mal lieber zurückdackeln und Herrchen dem Frauchen am winkenden Ziel vorziehen, weil der die wohlriechendere „Goldene Wurst“ am Start hat. Wer ist verrückter, Herr oder Hund?
Verrückt an unübersichtlichen Heim(at)-Verhältnissen kann man mit den Protagonisten auch in Max Zähles oscar-nominiertem Kurzfilm „Raju“ werden. Jan und Sarah Fischer (eindrucksvoll gespielt von Wotan Wilke Möhring, Julia Richter) reisen nach Kalkutta, um ein Waisenkind zu adoptieren. Das scheint zunächst ganz einfach zu sein, doch dann läuft ihr „Kind“ Raju weg. Denn es ist kein Waise, wurde nur von seinen leiblichen indischen Eltern entführt, weil das „Waisenhaus“ damit gute Geschäfte mit westlichen Adoptiveltern macht. Ein unmoralisches Angebot? Oder eine Maßnahme für ein besseres Leben von Kindern in der neuen westlichen Heimat? Zähle erzählt dieses Dilemma zwischen west-östlichen Heimaten ohne moralischen Zeigefinger, lässt vielmehr das „Beste für das Kind“ bewusst offen. Am Ende bringt der neue Vater das Kind zum alten. Aber bringt das die verstörten (Heimat-) Welten wieder in Ordnung?
Der heimeligen Heimat ist auch die alte Dame im Musikvideo „Moritz Krämer – 90 Minuten“ von Christian Mertens verlustig. Ihre Haus- und Lebensgenossin, eine Dackelin, ist unheilbar krank, und es gilt, Abschied zu nehmen, es auf sich zu nehmen, der „Lebenspartnerin“ beim eingeschläferten Sterben in der Tierarztpraxis zuzusehen. Im Leben und in einer selbstgezimmerten Heimat kann man immer nur einen Moment lang „hängenbleiben“, verlautet Krämers Liedtext. Und so wird aus diesem Augenblick die schwerer noch aushaltbare Ewigkeit ohne das geliebte Wesen … Allein steht die alte Dame am Ende im kalten Feld vor den Felsen der Heimat, Plattenbauten am Horizont. Und wir haben zwei, drei, vier oder auch fünf Tränen im Knopfloch.
Wenn wir nicht schwerelos wären, wie es das „Centrifuge Brain Project“ von Till Nowak verkündet und verheißt – als durchaus Heimsuchung. Wie sehr muss man schleudern, um heim- und niederzukommen? Ein Mockumentary über den irrwitzigen Kampf gegen „Gravity, it’s a mistake“. Ein „weird scientist“ bietet uns zunehmend groteskere Jahrmarkts-Auswege aus der eigenen Schwerkraft, beschleunigt uns „bis auf sechs G“, wo wir ohnmächtig werden von der eigenen Sucht der Beschleunigung des Lebens. Humor, überbordend Abstruses, das uns noch einmal herzlich lachen lässt, bevor wir untergehen – und eingehen in sterbende Heimat, gerade auch die Träume, darin ohne Schwere und Schwären die Leichten zu sein in selbstkonstruiert anderen Welten unser heimatlichen Fremde. (jm)
Weitere Eindrücke vom Kurzfilmabend hier.