16. Filmfest Schleswig-Holstein – Augenweide 2012

Junge Afghanen zwischen Tatendrang und Burka

„Generation Kunduz – Der Krieg der Anderen“ (Martin Gerner, D 2010)

Erhellende und den Alltag beleuchtende Einblicke jenseits westlicher Nachrichten und Korrespondentenberichten für das Fernsehen aus Afghanistan und jenseits des Militärs liefert Martin Gerners Dokumentarfilm „Generation Kunduz – Der Krieg der Anderen“. Er schildert episodisch Leben, Ansichten und Erfahrungen von fünf jungen Afghanen aus der Provinz Kunduz, die mit dem Krieg leben müssen, deren Alltag aber nicht vollkommen von Kriegsgeschehen bestimmt wird. Es ist halt der Krieg, zwischen ausländischem sowie eigenem Militär auf der einen Seite und den Taliban auf der anderen. Der blutige Dauerkonflikt „der Anderen“, mit dem man sich nur zwangs- und teilweise identifiziert. Zugleich schafft der Film es, uns quasi en passant eine Ahnung von der afghanischen Kultur in Bezug auf die Geschlechterrollen, insbesondere der weiblichen, zu geben. Last but not least wird ausschnitthaft die traumatische Erfahrung der schrecklichen Ereignisse um die auf deutschen Befehl erfolgte Bombardierung der von Taliban geraubten Tanklastzüge thematisiert, bei der im September 2009 mindestens 90 Menschen, überwiegend Zivilisten, getötet wurden.
Den Film rahmt mit seinem Erzählen ein kleiner, zehn Jahre alter Junge ein, der sich neben dem Schulbesuch notgedrungen als Schuhputzer verdingt, um seine Familie mit seinen kleinen Verdiensten durchzubringen. Mirwais’ wie aus Erwachsenenmund kommende, klare Beschreibungen sagen eigentlich schon vieles, was man über den kriegerischen Konflikt aus afghanischer Perspektive wissen muss: „Es gibt Flugzeuge, sie sind irgendwohin unterwegs. Wenn ein Flugzeug abstürzt, sterben vier Amerikaner und 10 bis 15 meiner Landsleute. Was ist der Grund? Der Krieg … Die Flieger sind von der NATO oder so. Die bringen Taliban um, indem sie Bomben werfen.“ Genauso unverstellt, brutal realitätsnah sieht Mirwais die Rolle der Taliban: „Ein Talib? Das ist jemand, der Menschen etwas antut … Sie nehmen Menschen fest und töten sie.“ Am Ende des Films meint er prophetisch und zugleich voller kindlicher Illusionen: „Ohne Krieg wäre keiner arm, die Menschen würden sich verstehen, alles wäre prima.“
Der Junge Mirwais bei seinem Job. (Fotos: Martin Gerner)
Eine weitere Protagonistin ist Nazanin, eine junge Journalistin und Radiomoderatorin. Mit ihren 18 Lebensjahren verbindet sie voller Optimismus einen aufklärerischen Impetus mit dem Wissen um die kulturellen und sozialen Schranken, die gerade den Frauen durch die islamische, streng patriarchalische Kultur in Afghanistan gesetzt sind. Sie hofft, z.B. häusliche Gewalt gegen Ehefrauen mit ihren Berichten darüber eingrenzen zu können. Ihre Tätigkeit als Radiojournalistin hat sie sich gegen den Widerstand fast aller ihrer männlichen Familiemitglieder erkämpfen müssen. So ist auch die Skepsis einer ihrer Brüder diesbezüglich ungebrochen. Er fürchtet, sicherlich nicht ganz zu unrecht, die Reaktion der Taliban gegen die Familie, falls diese wieder an die Macht kommen sollten. Es zeichnet sich schließlich ab, dass Nazanins Träume von einem Jurastudium, um später als Anwältin in die männliche Phalanx zum Wohle der Frauen einbrechen zu können, in dieser Gesellschaft nur Träume bleiben werden. Ihr Verlobter unterbindet letztendlich jeden Kontakt zu Gerners Filmteam. Nazanins letzter Satz am Telefon zu Gerner, hilflos aber etwas Selbstverständliches für dieses Land erklärend: „Schauen Sie, die Männer in Afghanistan wollen nicht, dass eine Frau mit einem anderen Mann so einfach Kontakt hat.“
Ähnlich zu kämpfen hat die junge Khatera, die als Theater- und Filmbegeisterte, dem jungen Regisseur Ghulam als Produzent, Regisseur und sein eigener Schauspieler beim ersten Spielfilm, einer Low-Budget-Produktion, den Vorrang lassen muss und bei den Dreharbeiten nur als Assistentin bescheiden die „zweite Geige“ spielen darf, obwohl dass ganze Projekt ihre Idee und Ghulam ursprünglich ihr Schauspielschüler war. Wie auch Nazanin kommen sie aus der relativ toleranten und wohlhabenden Mittelschicht Afghanistans, müssen aber gegen ein verknöchertes, konservatives Beharrungsvermögen der älteren Generationen ankämpfen („Sie reden von der Bedeutung der Jugend, dabei wollen sie nur sich selber darstellen“, so ein Freund Ghulams über die Alten) und Lehrgeld zahlen. Da helfen weder großer Tatendrang noch idealistische Gedanken.
Khatera bei den Dreharbeiten zum Spielfilm.
Am besten scheint noch der junge Agrarstudent Hasib mit seinem Werdegang klar zu kommen. Er findet schließlich nach dem Examen eine einträgliche Anstellung bei einen Entwicklungshilfeprojekt und schaut trotz ständiger Verschärfung der Situation in Afghanistan relativ zuversichtlich für sich persönlich in die Zukunft. Als freiwilliger Wahlbeobachter erfährt er jedoch die Schwächen des korrupten Systems in Afghanistan aus nächster Nähe.
Zwischen die Szenen aus dem Alltag der jungen Leute mit ihren Erzählungen und Meinungen ist immer wieder ein klagender Vater montiert, der zunächst aus dem Off, später auch im Bild, von den Geschehnissen der Nacht vom 9. September 2009 erzählt. Er verlor beim NATO-Luftangriff auf die „entführten“ Tanklaster vier seiner Söhne und vier Neffen, die von den Taliban aufgefordert worden waren, sich Benzin aus den festgefahrenen Tankfahrzeugen zu holen, und dabei ums Leben kamen. Eindringlich und bedrückend wirkt seine Ohnmacht: „Man sagt, der Himmel ist zu weit, die Erde ist zu hart. Wo sollen wir denn hin?“
Die Wunden heilen nicht. Nach der Katastrophe von Kunduz: ein klagender Vater.
Gerners Film profitiert von der Nähe, die er als jahrelanger Beobachter vor Ort zu den Menschen hat gewinnen können. Er ist dort als Journalistenausbilder tätig gewesen, spricht die Landessprache und hat nur mit afghanischen Kameraleuten gearbeitet. Auch hat er sich nicht als Journalist militärisch „einbetten“ lassen, sondern hat als Zivilist ohne militärischen Schutz das Vertrauen der Menschen gewonnen. Man sieht im Film, dass es ein Afghanistan mit, aber auch zugleich, wenn man so will, neben dem Krieg gibt. Afghanischer Alltag in der Provinz Kunduz mit offenen Protagonisten, die ebenso wie Gerner das Risiko nicht scheuen, das trotzdem allgegenwärtig ist. Das ist die Stärke dieses Films. (Helmut Schulzeck)
„Generation Kunduz – Der Krieg der Anderen“, Deutschland 2010, 80 Min., Buch und Regie: Martin Gerner, Kamera: Resa Asarshahab, Ali Hussein Husseini, Karim Amin, Morteza Shahed, Aziz Deldar, Martin Gerner, Schnitt: Ole Heller, Musik: Stefan Döring, Projektförderung der Filmwerkstatt Kiel der Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein GmbH (FFHSH)

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