62. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2012
Die Kunst des Hinsehens und die Unart des Wegschauens
„Revision“ (Philip Scheffner, D 2012)
Das ist wirklich eine gute Sache: Philip Scheffner ist nach „Halfmoon Files“ (D 2007) und „Der Tag des Spatzen“ (D 2010) auch mit seinem dritten Dokumentarfilm „Revision“ im Forum des jungen Films auf der Berlinale vertreten. Inzwischen hat er sich einen Namen gemacht als einer der interessantesten deutschen Dokumentarfilmer. Seine neue Dokumentation sieht er selbst als eine „filmische Revison“, die Rekonstruktion eines doppelten Todesfalles in Mecklenburg-Vorpommern an der deutsch-polnischen Grenze Anfang der neunziger Jahre: Am Morgen des 29. Juni 1992 entdeckte ein Bauer in einem Getreidefeld nahe dem Örtchen Nadrensee die Leichen zweier Männer, illegale Einwanderer aus Rumänien, wie sich später herausstellte. Zwei Jäger gaben zu Protokoll, sie hätten bei der Jagd im Morgengrauen am Rande eines Kornfeldes eine Gruppe von Einwanderern mit Wildschweinen verwechselt. Der Fall erzeugte keinen Medienwirbel, nur eine kurze Zeitungsnotiz zu einem Jagdunfall. Erst vier Jahre später wurde das Verfahren gegen die Jäger eröffnet. Wer die tödlichen Schüsse abgegeben hatte, ließ sich nie eindeutig beweisen, das Verfahren endete mit einem doppelten Freispruch.
Die beiden getöteten rumänischen Staatsbürger Eudache Calderar und Grigore Velcu sind zwei von 14.687 Einwanderern, die an den Grenzen der Europäischen Union zwischen 1988 und 2009 ums Leben kamen. Eine unglaubliche Zahl, die als statistischer Wert im Kontext europäischer Geschichte aber abstrakt bleibt. Scheffners Film ist daher auch ein Stück Geschichtsschreibung aus der Perspektive persönlichen Biografien, im Fall von „Revision“ aus Sicht der Familien Calderar und Velcu. Keine der beiden Familien wurde über das Verfahren gegen die beiden Schützen informiert, die Leichen ihrer Familienväter bekamen sie damals in einem Holzsarg zugeschickt. Erst 19 Jahre nach dem Tod der Familienväter erfahren sie durch Scheffner vom Freispruch der beiden Schützen.
Dokumentarische Spurensuche: Still aus „Revision“ (Foto: Berlinale)
Scheffner macht sich zum Anwalt der beiden Männer und ihrer Hinterbliebenen, spricht mit relevanten Zeugen und zuständigen Beamten, holt die nie angeordnete Tatortbegehung nach. Dabei nimmt er es sehr genau: Das Kornfeld wird nicht nur am Tage inspiziert, Scheffner und sein Kameramann Bernd Meiners versuchen, dem Zuschauer auch einen Eindruck der Sichtverhältnis in der Tatnacht zu vermitteln. Zeugenaussagen nimmt Scheffner nie unkommentiert in seine Dokumentation auf, statt dessen können sich die Befragten ihre Antworten noch einmal selbst anhören und kommentieren. Revision auch auf der Ebene der dokumentarischen Arbeit.
„Revison“ rollt nicht nur den Fall Calderar/Velcu mit seinen unzähligen Versäumnissen, irreführenden Theorien und unverständlichen Verschleppungen auf. „Revision“ macht auch eine gesellschaftliche Haltung bewussten „Wegschauens“ sichtbar, die das Progrom in Rostock-Lichtenhagen erst ermöglichte. Dorthin waren die etwa 20 anderen Einwanderer, die kurze Zeit nach der Tatnacht aufgegriffen wurden, verbracht worden. In den Tagen nach dem 22. August 1992 attackierten über 300 Neo-Nazis unter dem Jubel der Bevölkerung wiederholt das Übergangslager Rostock-Lichtenhagen und zündeten es schließlich an.
Reflektiert in seinen Dokumentarfilmen auch das Medium: Philip Scheffner (Foto: Svenja L. Harten/pong)
Philip Scheffners Arbeiten tragen nicht nur eine unverwechselbare audiovisuelle Handschrift, seine Themenbearbeitung ist nicht nur ein reiner Gewinn an faktischem Wissen. Scheffner reflektiert in seinen Filmen immer auch das Medium selbst, unterzieht es ganz beiläufig einer kritischen Untersuchung, als wolle er auch hier sicher gehen, dass der Zuschauer der unvermeidlichen Auswahl und Bündelung von Fakten durch den Dokumentaristen gewahr bleibt. Scheffner öffnet die „Black Box“ des Films, macht dem Betrachter die filmischen Mittel bewusst oder erklärt auch mal die Entstehung eines prekären visuellen Beweisstückes, indem er die Vor-Ort-Diskussion zwischen Regisseur und Kameramann im Film belässt. Scheffner will maximale Transparenz, lässt deshalb auch den Arbeitsprozess im fertigen Film durchscheinen und versucht nicht, jedes Rechercheergebnis in einen kausalen Zusammenhang einzubinden. Dieser medienkritische Ansatz, seine gründlichen Recherchen und insistierenden Fragen machen Philip Scheffners Filme zu wichtigen Zeugnissen und meinungsstarken Aussagen, darüber hinaus aber auch zu einer bereichernden intellektuellen Herausforderung. (dakro)
„Revision“, D 2012, 106 Min., Regie: Philip Scheffner, Buch: Merle Kröger, Philip Scheffner, Kamera: Bernd Meiners, Produzentin: Merle Kröger für pong in Koproduktion mit Blinker Filmproduktion, Worklights Media Production sowie ZDF/arte, gefördert durch Filmförderung Hamburg Schleswig Holstein