62. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2012

Kindersoldaten und War Witch

„Rebelle“ (Kim Nguyen, Kanada 2012)

Das Geschehen setzt unmittelbar ein. Kurz sieht man ein afrikanisches Dorf, dessen Hüttenwände u.a. aus abgenutzten schmutzigen Plastikplanen bestehen. Ist es ein Flüchtlings-Camp oder ein richtiges Dorf, fragt man sich noch. Der Ort brütet ruhig an einem breiten, sandigen Flussufer in der Mittagshitze, die nur durch leichten Windhauch gemildert scheint. Nur wenige Augenblicke des Einsehens in die Bilder bleiben, bis Rebellen vom Wasser her mit Booten über die Ortschaft herfallen, um „frische“ Kindersoldaten zu rekrutieren. Wer sich ihnen in den Weg stellt oder zu fliehen versucht, wird schonungslos niedergemetzelt. Ein junges Mädchen, vielleicht 13 oder 14 Jahre alt, Komona (Rachel Mwanza gewann für ihre Darstellung den Silbernen Bären der Berlinale), wird auf ihre Tauglichkeit geprüft. Sie wird aufgefordert, ihre Eltern zu erschießen, ansonsten würde man diese vor ihren Augen mit der Machete zerstückeln. Ihr Vater spricht die Geschockte schon vor der Tat frei und fordert sie auf, sich nicht zu widersetzen, nimmt so schon Abschied von seiner Tochter, Hand in Hand mit seiner Frau. Der Kamerablick kommt nah an die Personen heran – Großaufnahmen -, zeigt traumatische Bestürzung, „pragmatische“ Verrohung, Ohnmacht, Sprachlosigkeit, Schweiß und Angst auf den Gesichtern, aber auch die Selbstgewissheit der Macht der Stärkeren.
Silberner Bär für die beste weibliche Darstellerin der Berlinale 2012: die junge Laiendarstellerin Rachel Mwanza als Komona.
Diese Mischung von pseudo-dokumentarischem Stil, der in Folge afrikanische Lokalitäten, Stimmungen und Alltag fast beiläufig, aber dennoch intensiv abzubilden vorgibt, mit der Darstellung von vor (inszenierter) nackter Gewalt triefendem, rücksichtlosen Vorgehen der Rebellen – man denkt unwillkürlich an die schrecklichen Bürgerkriegskämpfe mit ihren Gräueltaten im Kongo – wird den Rhythmus des Films „Rebelle“ des kanadischen Regisseurs Kim Nguyen bestimmen. Er schöpft seine Unmittelbarkeit aus seinen authentischen Drehorten in der Republik Kongo und seine Glaubwürdigkeit aus der Unverstelltheit seiner (überwiegend) Laiendarsteller, die ihr Spiel in einfache Sätze ihrer kongolesischen Muttersprache kleiden. Im übrigen baut der Film eher auf Aktionen, Situationen, Stimmungen und Atmosphäre, denn auf langwierige Dialoge.
Die vom Dorf verschleppten Kinder, respektive die zukünftigen Kindersoldaten werden anschließend im Dschungel geschult und gedrillt. Holzstöcke werden ihnen als Waffenattrappen in die Hände gedrückt. Es wird ihnen beigebracht, wie sie diese wie Gewehre zu halten und zu behandeln haben. Sie sollen sie respektieren, sie als Elternersatz ansehen, der Autorität der Waffen gehorchen. Die Selbstverständlichkeit und Drastik der Brutalität verstört den Zuschauer. Und der magisch spirituelle Hintergrund, die rituellen Geisterbeschwörungen, mit Voodoo, Fetisch, schwitzenden Zeremonien voll Tanz und Gesang, lassen ahnen, dass das Rebellendasein an sich schon Zweck und Erfüllung in sich selbst birgt, für den einzelnen also außer im Kampf zu siegen praktisch ziellos und endlos ist, wenn man einmal von der Erfüllung der Herrschaft der Warlords absieht.
Der Film bindet sich im weiteren Verlauf eng an das Schicksal der Hauptperson Komona. Ihr erscheinen beständig ihre toten Eltern, aber auch andere Verstorbene als Geister. Die Eltern mahnen das Mädchen, ins Heimatdorf zurückzukehren und sie zu begraben (was es schließlich, wenn auch eher symbolisch beherzigen wird). Erst dann würden sie als Geister von ihr ablassen. Während eines Dschungelkampfes entkommt sie als einzige ihres Trupps unverletzt einem Hinterhalt mit Hilfe der sie warnenden Geister. Die optische Darstellung dieser ist einfach aber eindrucksvoll gelöst. Wie mit weißer Asche gekalkt, stehen diese Kongolesen meist somnambul mahnend, untot vor der Protagonistin. Durch den Vorfall im Kampf bleibt den anderen und ihrem Anführer Kamonas Fähigkeit nicht verborgen. Sie wird zur War Witch, zur heiligen Kriegshexe auserkoren, quasi zum lebendigen Talisman, mit dem man im Kampf zu gewinnen hofft.
Daneben baut sich langsam eine besondere Beziehung Komonas zu einem Mitrebellen, dem jugendlichen Albino-Magier (Serge Kanyinda) auf, der schon früher als alle anderen erkannt hat, dass sie besondere spirituelle Fähigkeiten hat. Er wird zu ihrem Beschützer. Und schließlich entspinnt sich zwischen beiden inmitten der Gewalt eine zarte, magisch angehauchte Liebe. Für eine Weile gelingt es ihnen, den Guerillas zu entfliehen. Sie ziehen ihre Kampfhemden aus, verpacken ihre Gewehre. Der Film versucht das Nebeneinander von Alltag und Krieg erfahrbar zu machen. Neben dem blutigen Metzeln der Kämpfer im Busch gibt es auch den normalen afrikanischen Alltag, in dem Waffen keinen Platz haben, in dem die Machete zum Erntewerkzeug für Palmölnüsse wird, der Hahn seinen Fetisch-Charakter verliert und zum unabdingbaren Brautgeschenk „mutiert“.
Komona (Rachel Mzwana) und ihr Freund (Serge Kanyinda) jenseits des Kriegs.
„Rebelle“ ist ein starker, aber nicht nur politischer Film, dessen plakative Direktheit Kritik hervorrufen wird, da er versucht, das brutale Geschehen vor Ort abzubilden, ohne dessen Ursachen oder Verantwortlichen zu zeigen oder zu benennen. Nur einmal wird kurz mit der optischen Thematisierung der Gewinnung von Coltan bzw. dem Abtransport dieses Rohstoffes ein eigentlich entscheidender, übergeordneter Zusammenhang angedeutet. Der Film hingegen zieht seine Legitimation aus seiner Klage über die Verhältnisse, seine Wahrheit aus bei uns, den Zuschauern, vorausgesetzten, eher unspezifischen Wissen über die tatsächlichen Vorgänge in Afrika, aus den Schauplätzen, den Darstellern und ihrer Sprache. Was an Betroffenheit bei der Betrachtung entsteht, ist auch dem Wissen geschuldet, dass die von einem Nichtafrikaner inszenierte Handlung in ihrer Grausamkeit und in ihren friedlichen, bisweilen geradezu idyllischen Momenten heftiger in ihrer Emotionalität wirkt als so manche gut gemachte Dokumentation aus diesem Krisenherd der Welt. Das Ende der Geschichte wirkt friedlich, auch wenn es offen scheint – und ist illusorisch, werden manche einwenden. (Helmut Schulzeck)
„Rebelle“ („War Witch“), Kanada 2012, 90 Min., Regie und Buch: Kim Nguyen, Kamera: Nicolas Bolduc, Schnitt: Richard Comeaus, Darsteller: Rachel Mwanza, Serge Kanyinda, Alain Bastien, Ralph Prosper
Cookie Consent mit Real Cookie Banner