62. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2012
Forum: Alltag und Fantasie
Die Auseinandersetzung über gegensätzliche Lebensentwürfe, der Konflikt zwischen den Generationen und die Ambivalenz des sogenannten Fortschritts stehen im Mittelpunkt zahlreicher Beiträge zum Forum 2012.
So trifft in dem Spielfilm Formentera von Ann-Kristin Reyels ein junges Paar im Urlaub auf die 68er-Elterngeneration und stellt dabei fest, wie sehr die eigenen Lebensvorstellungen voneinander abweichen. Ebenfalls in Spanien spielt Sleepless Knights von Stefan Butzmühlen und Cristina Diz, die eine schwule Liebesgeschichte in der Provinz erzählen und das Zusammenleben der Generationen als Gegenentwurf zur städtischen Entwurzelung beschreiben.
Um die komplizierten Übereinkünfte des alltäglichen Zusammenlebens geht es auch in Beziehungsweisen von Calle Overweg, der in halb inszenierter, halb dokumentarischer Weise Menschen bei der Paartherapie beobachtet, sowie in What Is Love von Ruth Mader, die in fünf Miniaturen aus der österreichischen Provinz unterschiedlichen Ausprägungen der Liebe nachspürt.
Nomaden der Gegenwart stehen im Mittelpunkt der Filme Habiter / Construire (Living / Building) von Clémence Ancelin, die ein Straßenbauprojekt im Tschad und dessen Auswirkungen auf die Wüstenbevölkerung dokumentiert, und Hiver nomade (Winter Nomads) von Manuel von Stürler, der zwei Schafhirten in der winterlichen französischen Schweiz porträtiert.
Stark vertreten ist im Forum 2012 das europäische Kino auch mit weiteren Beiträgen aus Frankreich, den Niederlanden, Schweden, Polen, der Tschechischen Republik, Russland, Rumänien und der Türkei.
Der jordanische Spielfilm Al Juma Al Akheira (The Last Friday) von Yahya Alabdallah erzählt von einem Taxifahrer in Amman, der sich gezwungen sieht, Ordnung in seine gescheiterte Existenz zu bringen. Der Dokumentarfilm Bagrut Lochamim (Soldier / Citizen) konfrontiert uns mit den unversöhnlichen Ansichten junger Israelis über ihre arabischen Mitbürger und Nachbarn. Eine intelligente Provokation ist Mani Haghighis Spielfilm Paziraie Sadeh (Modest Reception), in dem ein reiches Paar in der iranischen Provinz Plastiksäcke voller Geld verteilt – ein Almosen, das der reinen Demütigung dient.
Von einer Frau, die sich in bitterer Not entschließt, ihren demenzkranken Vater auszusetzen, erzählt der bewegende uruguayische Spielfilm La demora (The Wait) von Rodrigo Plá. Für den Aufbruch einer jungen Generation von Filmemachern im nordargentinischen Córdoba steht das Regiedebüt Salsipuedes von Mariano Luque, der visionär von familiärer Gewalt erzählt. Der Dokumentarfilm Escuela normal (Normal School) von Celina Murga wiederum beobachtet an einer Oberschule in Buenos Aires, wie Jugendliche die politischen Muster der Erwachsenenwelt kopieren.
Mit drei Spielfilmen ist auch das US-Independent-Kino stark im Programm vertreten. David Zellners märchenhafter Kid-Thing beschäftigt sich mit Alltag und Fantasie eines verwahrlosten Mädchens. Brian M. Cassidy und Melanie Shatzky folgen in Francine einer aus der Haft entlassenen menschenscheuen, aber äußerst tierlieben Frau (gespielt von Oscar-Preisträgerin Melissa Leo). Und So Yong Kim lässt in For Ellen einen pflichtvergessenen Rockmusiker (gespielt von Paul Dano) den letzten Versuch unternehmen, eine Beziehung zu seiner kleinen Tochter aufzubauen.
Drei Filme aus Japan beschäftigen sich mit dem Tsunami vom 11. März 2011 und dem GAU des Atomkraftwerks Fukushima. In No Man’s Zone dringt Fujiwara Toshi wie ein tarkowskijscher Stalker in die verstrahlte Zone um die Atomreaktoren vor und evoziert Bilder einer unsichtbaren Apokalypse. Iwai Shunji diskutiert mit friends after 3.11 die politische, ökologische und soziale Lage eines Landes im Zustand der Abhängigkeit. Und Funahashi Atsushi porträtiert in Nuclear Nation einen Bürgermeister ohne Stadt, der verzweifelt seine auf Notunterkünfte in Tokioter Vororten verteilte Gemeinde zusammenzuhalten versucht und dabei alte Gewissheiten in Frage stellt.
Das 42. Forum der Berlinale zeigt insgesamt 38 Filme im Hauptprogramm, davon 26 als Welt- und 8 als internationale Premieren.
Hauptprogramm
- Al Juma Al Akheira (The Last Friday) von Yahya Alabdallah, Jordanien/Vereinigte Arabische Emirate – IP
- Ang Babae sa Septic Tank (The Woman in the Septic Tank) von Marlon N. Rivera, Philippinen
- Avalon von Axel Petersén, Schweden
- Bagrut Lochamim (Soldier / Citizen) von Silvina Landsmann, Israel – WP
- Bestiaire von Denis Côté, Kanada/Frankreich
- Beziehungsweisen (Negotiating Love) von Calle Overweg, Deutschland – WP
- La demora (The Wait)von Rodrigo Plá, Uruguay/Mexiko/Frankreich – WP
- Escuela normal (Normal School)von Celina Murga, Argentinien – WP
- Espoir voyage von Michel K. Zongo, Frankreich/Burkina Faso – IP
- For Ellen von So Yong Kim, USA – IP
- Formentera von Ann-Kristin Reyels, Deutschland – WP
- Francine von Brian M. Cassidy/Melanie Shatzky, USA/Kanada – WP
- friends after 3.11 von Iwai Shunji, Japan – IP
- Habiter / Construire (Living / Building)von Clémence Ancelin, Frankreich – WP
- Hemel von Sacha Polak, Niederlande/Spanien – WP
- Hiver nomade (Winter Nomads) von Manuel von Stürler, Schweiz – WP
- Jaurès von Vincent Dieutre, Frankreich – WP
- Kashi (Choked) von Kim Joong-hyun, Republik Korea – IP
- Kazoku no kuni (Our Homeland) von Yang Yonghi, Japan – WP
- Kid-Thing von David Zellner, USA – IP
- Koi ni itaru yamai (The End of Puberty) von Kimura Shoko, Japan – IP
- Die Lage (Condition) von Thomas Heise, Deutschland – WP
- No Man’s Zone (Mujin chitai)von Fujiwara Toshi, Japan/Frankreich – IP
- Nuclear Nation von Funahashi Atsushi, Japan – WP
- Parabeton – Pier Luigi Nervi und römischer Beton (Parabeton – Pier Luigi Nervi and Roman Concrete) von Heinz Emigholz, Deutschland – WP
- Paziraie Sadeh (Modest Reception) von Mani Haghighi, Iran – WP
- PÅ™ÃliÅ¡ mladá noc (A Night Too Young) von Olmo Omerzu, Tschechische Republik/Slowenien – WP
- Revision von Philip Scheffner, Deutschland – WP
- Salsipuedes von Mariano Luque, Argentinien – WP
- Sekret (Secret) von PrzemysÅ‚aw Wojcieszek, Polen – WP
- Sleepless Knights von Stefan Butzmühlen/Cristina Diz, Deutschland – WP
- Le sommeil d’or (Golden Slumbers)von Davy Chou, Frankreich/Kambodscha
- Spanien (Spain) von Anja Salomonowitz, Österreich – WP
- Tepenin Ardı (Beyond the Hill) von Emin Alper, Türkei/Griechenland – WP
- Tiens moi droite (Keep Me Upright) von Zoé Chantre, Frankreich – WP
- Toată lumea din familia noastră (Everybody in Our Family) von Radu Jude, Rumänien/Niederlande – WP
- What Is Love von Ruth Mader, Österreich – WP
- Zavtra (Tomorrow)von Andrey Gryazev, Russland – WP
Special Screenings
Mit einer Reihe von Special Screenings vervollständigt das Forum der Berlinale sein Programm. In dem Dokumentarfilm Lawinen der Erinnerung porträtiert Dominik Graf, einer der einflussreichsten deutschen Film- und Fernsehregisseure, eine andere Fernsehpersönlichkeit, den Autor, Regisseur und Produzenten Oliver Storz. Sein Film ist zugleich ein Beitrag zur deutschen Fernsehgeschichte und zur deutschen Geschichte überhaupt.
Das dokumentarische Projekt in arbeit / en construction / w toku / lavori in corso von Minze Tummescheit und Arne Hector folgt dem Prinzip des Ketteninterviews. Der erste Interviewpartner führt das Filmteam zum zweiten, und so fort. Alle verbindet die Arbeit in kooperativen Strukturen. Die Frage, die sie verhandeln, ist die ihrer Legitimation: Ist es sinnvoll und überhaupt möglich, sich außerhalb des industriellen Fortschritts, der politischen Öffentlichkeit oder des Weltmarkts zu verorten?
Einen festen Platz im Forum haben Wiederaufführungen und „Ausgrabungen“ seltener Werke. So ist 20 Jahre nach seiner Premiere beim Forum 1992 Tom Kalins kunstvoller und provokativer Spielfilm Swoon wieder zu sehen, eines der besten Beispiele des „New Queer Cinema“ der 90er Jahre. Mit Wynn Chamberlains Mediensatire Brand X aus dem Jahre 1968 ist ein lange verschollenes Werk des US-Underground-Kinos wiederzuentdecken.
In restaurierten Fassungen ihrer Filme The Connection und Ornette: Made in America wird das Werk der legendären US-Regisseurin Shirley Clarke vorgestellt, ergänzt durch ein Werkstattgespräch mit Restaurator Dennis Doros. Kawashima Yuzo ist hierzulande durch seinen Film Bakumatsu tayoden (The Sun in the Last Days of the Shogunate) bekannt. Zwei weitere Werke – Suzaki Paradaisu: Akashingo (Suzaki Paradise: Red Light) und Kino to ashita no aida (Between Yesterday and Tomorrow) – zeigen einen japanischen Regisseur, der gesellschaftlichen Wandel aufnahm wie kaum ein anderer seiner Generation.
Ein besonderes Abenteuer ist die Wiederentdeckung des kambodschanischen Kinos der 1960er und frühen 70er Jahre. Diesem „Goldenen Zeitalter“ widmet sich der Dokumentarfilm Le sommeil d’or von Davy Chou (Forum Hauptprogramm). Mit der einmaligen Aufführung von drei über die tragische kambodschanische Geschichte geretteten Filmen der Regisseure Ly Bun Yim [Puthisen Neang Kongrey (12 Sisters), 1968] und Tea Lim Koun [Peov Chouk Sor, 1967 und Puos Keng Kang (The Snake Man), 1970] geben wir einen Einblick in die Vergangenheit einer kaum bekannten Filmnation.
- Brand X von Wynn Chamberlain, USA
- in arbeit / en construction / w toku / lavori in corso (in the works) von Minze Tummescheit/Arne Hector, Deutschland – WP
- Lawinen der Erinnerung von Dominik Graf, Deutschland – WP
- Swoon von Tom Kalin, USA
- Bakumatsu taiyoden (The Sun in the Last Days of the Shogunate) von Kawashima Yuzo, Japan
- Kino to ashita no aida (Between Yesterday and Tomorrow) von Kawashima Yuzo, Japan
- Suzaki Paradaisu Akashingo (Suzaki Paradise: Red Light) von Kawashima Yuzo, Japan
- The Connection von Shirley Clarke, USA
- Ornette: Made in America von Shirley Clarke, USA
- Peov Chouk Sor von Tea Lim Koun, Kambodscha
- Puos Keng Kang (The Snake Man) von Tea Lim Koun, Kambodscha
- Puthisen Neang Kongrey (12 Sisters) von Ly Bun Yim, Kambodscha
(nach Pressemitteilungen der Berlinale)