Tief verwurzelt aus der Zeit gefallen

„Fish & Onions“ Marc Brummund, Bettina Herzner, René Fischer, D 2011)

„Ich hab’ mein ganzes Leben hier verbracht“, hört man immer wieder von den Altgläubigen (eine im 17. Jahrhundert entstandene und seither fast unveränderte streng orthodoxe christliche Glaubensrichtung), die Marc Brummund, Bettina Herzner und René Fischer in der abgelegenen Region des westlichen Ufers des Peipus-Sees besuchten und für ihr ethnografisches Dokumentarfilmprojekt „Fish & Onions“ interviewten. Hier, an der Grenze zwischen Estland und Russland ducken sich die Hütten tief und windschief in die freilich bezaubernde Landschaft, und die Zeit scheint irgendwann um 1700 stehengeblieben zu sein. Ein Märchenland aus einer fernen Zeit, wo man seinen kargen Lebensunterhalt noch auf dem eigenen Acker verdient, auf dem nicht viel mehr als Zwiebeln und Gurken wachsen, oder mit Netzen und Reusen im See, der immer weniger Fische hergibt.
Ein aus der Zeit gefallenes Idyll, in dem das Leben im biblischen Schweiße des Angesichts erstritten werden will, zeigt die ethnografische Studie der drei Hamburger Filmemacher denn auch zunächst – garniert mit pittoresken Landschaftsimpressionen. Bliebe es dabei, wir könnten es unter der NDR-Rubrik „Länder, Menschen, Abenteuer“ o.ä. verbuchen und hätten zwar „Exotisches“, aber nicht unbedingt neues Fremdländisches zu sehen bekommen. Wer aber diese durchaus Langeweile der ersten halben von einer knappen Stunde Filmdauer durchhält, wird am Ende entlohnt mit einem Blick, der auch die Brüchigkeit dieser verwunschenen Verwurzelung der Menschen im Vergangenen zeigt.
In Timofeys – 75 und vom Leben gegerbte Hauptfigur des Films – Hütte, die schon sein Vater errichtete, in der er geboren wurde und wohl einst auch sterben wird, steht mittlerweile ein Kühlschrank, wenn auch fast wie ein Fremdkörper wirkend. Aber noch ganz anders „stören“ die „modern times“ das zurückgezogene, immer noch sehr traditionelle Leben der Altgläubigen: Der lange Arm der EU habe vielen die Existenzgrundlage entzogen, denn ihre Zwiebeln und Fische passen allein aufgrund ferner Brüsseler Produktrichtlinien nicht mehr auf die modernen Märkte. Für die Altgläubigen am Peipus ist das so schicksalhaft wie ein schweres Sommergewitter, das die Ernte vernichtet – und sie nehmen es genauso „gottgegeben“ hin.
Gottesfürchtig ins Gottgegebene der Moderne: der Altgläubige Timofey (Foto: www.fishandonions.eu)
Schleichend zieht die Moderne auch in diesen verwunschenen Winkel der Welt ein – vielmehr drängt sich. Die Jugend kennt die alten Sitten nur noch vom Hörensagen, achtet sie gleichwohl und begreift sie auch für das eigene Leben, das sie hinaus in die „große weite Welt“ zieht, zumindest als Wurzel. So sieht der Film gleichsam „archäologisch“ auf die Lebensgemeinschaften einer Exklave, die zum Aussterben verurteilt ist. Ein ebenso interessierter wie wehmütiger Blick, der freilich die Menschen vor der Kamera ernst nimmt und nicht bloß „exotisch“ als „Ewiggestrige“ ausstellt.
Ein Blick aus der Fremde in ein Fremdes, dem er sich mit der gebotenen Vorsicht annähert – dazu trägt auch die Begleitung des Projekts durch das „Making of“ im die Dreharbeiten dokumentierenden Blog auf www.fishandonions.eu bei. Der Zuschauer erfährt in diesem „Vademecum“ noch viele weitere Hintergründe. Allein fragt sich, warum die Filmemacher solche Cross-Medialität nicht noch weiter getrieben haben. Statt nur Fotos hätten vielleicht auch Filmsequenzen in den Blog gepasst. Und umgekehrt hätte mancher Wechsel von hinter vor die Kamera die Art dieses fragilen dokumentarischen Blicks illustrieren können. So laufen in diesem First-Motion-Projekt die Medien eher nebeneinander her, statt sich zu durchdringen. Film und Blog für sich genommen überzeugen dennoch. (jm)
„Fish & Onions“, D 2011, 55 Min., Buch: Bettina Herzner, Marc Brummund, René Fischer, Regie: Marc Brummund, Kamera: Bettina Herzner, Schnitt: Imke Koseck, Produktion: Bettina Herzner, Marc Brummund, Förderung: Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein im Rahmen des EU-Projekts First Motion. www.fishandonions.eu.
Der Film feierte seine Premiere am 3.10.2011 beim Filmfest Hamburg.
Der Film ist am 14.2.2012, 20 und 21.30 Uhr beim First-Motion-Empfang auf der Berlinale in der Landesvertretung S.-H. (Berlin, In den Ministergärten 8) zu sehen.
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