Mediagipfel 2011: Computerspiel und Web 2.0 – Potential für Wirtschaft und Erziehung?

Wer spielt, der vertreibt sich die Zeit, kommuniziert und sorgt für Umsatz. So könnte man das sogenannte „social gaming“ zusammenfassen. Die kostenlosen Computerspiele, die sich ohne große Vorkenntnisse spielen lassen und meist Teil sozialer Netzwerke wie facebook oder myVZ sind, erfreuen sich immer größerer Beliebtheit. Auch wenn die Unterhaltung und Kontaktpflege im Vordergrund stehen, sind die Browserspiele ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor. Das unterstrich am Mittwoch auch Wirtschaftsminister Jost de Jager beim Mediagipfel „Computerspiel und Web 2.0 – Potential für Wirtschaft und Erziehung?“ im Rahmen der Mediatage Nord 2011.
Computerspiele hätten heute das gleiche wirtschaftliche Volumen wie die Filmindustrie. „Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass dies die Realität ist, die wir nicht moralisch bewerten sollten“, sagte er. Lernmethoden in den Schulen sollten dieser Realität angepasst werden. Die Generation Multimedia stehe vor neuen Herausforderungen. „In wirtschaftlicher Hinsicht bin ich hoffnungsfroh, dass die Unternehmen im Norden davon profitieren“, sagte der Minister.
Seitenwechsel. Joshua Begehr ist Profispieler. Wer jetzt den blassen Nerd erwartet hatte, der Hornbrille tragend noch bei Mutti wohnt, wurde enttäuscht. Der 23-jährige Student, der täglich vier bis sechs Stunden das Fußballspiel Fifa trainiert, erfüllt keines dieser Klischees. Gespielt und trainiert wird im Team. „In Deutschland kann nur eine handvoll Menschen vom Spielen leben“, berichtete er. Aber der Markt wachse und es werden mehr Spieler werden. Eltern rät er, mit ihren Kindern darüber zu reden, was sie spielen und wie lange. Die wichtigste Frage sei aber, warum sie spielten. „Wenn es einen guten Grund gibt, dann sollten die Eltern das fördern“, ist Begehr überzeugt.
Auch Medienpädagoge Jens Wiemken hält nichts von einer generellen Verurteilung oder der „oft in den Medien hochgekochten Angst vor der Computerspielsucht“. „Wenn ein Rentner heute sechs Stunden TV schaut, dann macht sich ja auch keiner über Sucht Gedanken“, sagte er. Stundenlanges Gitarreüben oder das tägliche Fußballtraining bei Jugendlichen seien ebenso vollkommen okay. „Wenn Eltern etwas bewirken wollen, dann sollten sie sich zum kritischen Freund machen, um mit den Kindern ihr Spielverhalten zu reflektieren“, riet er. Die Frage „Spielst Du schon wieder?“ sei fehl am Platze. Besser sei es, sich gemeinsam zu fragen, ob die „social games“ denn wirklich sozial seien. „Sind sie nicht“, klärte der Medienpädagoge auf, denn nur auf Kosten seiner Freunde könne man selbst weiterkommen, und das habe mit sozial nun wahrlich nichts zu tun. Das seinen Gesprächsansätze, mit denen man wirklich etwas bewege.
Bedeutet das letztlich mehr Verantwortung auch für die Anbieter? „Drei Prozent süchtige Spieler sind eine kritische Masse, da kann man Verantwortung nicht nur auf Eltern und Schule abschieben“, erklärte Nils-Holger Henning, Unternehmenssprecher des Hamburger Spieleherstellers Bigpoint, der nach eigenen Angaben mit rund 230 Millionen registrierten Spielern Marktführer in Europa sei. Temporäre Sperren bei zu exzessivem Spielverhalten lehne er aber ab. „Die sind rechtlich problematisch und gehen an den Interessen der Spieler vorbei, die letztlich mündige Bürger sind.“ Bigpoint verfolge einen anderen Ansatz. „Wir können abnormales Verhalten der Spieler erkennen und darauf reagieren“, erklärte er. Parameter wie Zahlungsverhalten, Alter, Spielhäufigkeit und mehr seien sichtbar und Anlass, mit den Spielern in Dialog zu treten. „Mehr Qualitätssicherung und vor allem ausgebildete Moderatoren mit sozialer Kompetenz“, wünscht sich Wiemken ebenso, wie einen Kostenairbag bei den Bezahlsystemen. „Es kann nicht sein, dass ein 18-Jähriger 1400 Euro ausgibt, nur um in einem Spiel anders auszusehen.“
„Spielsucht ist ein Thema in der Schule“ machte Ernst Lange deutlich. Der Lehrer der Ernestinenschule Lübeck, wurde 2010 auf dem Portal „spickmich.de“ zum beliebtesten Lehrer Schleswig-Holsteins gewählt. Wir machen regelmäßig in den 7. Klassen einen suchtpräventiven Tag“, sagte er. Lange wären Alkohol und Drogen ein Schwerpunkt gewesen, jetzt sei auch der Computer ein wesentlicher Aspekt. „Allein in der 7. Klasse spielen die Hälfte der Kinder über zwei Stunden täglich Computerspiele“, berichtete er aus der Praxis. Während die Mädchen sich eher mit Lernspielen die Zeit vertrieben, würden die Jungen alles andere spielen, nur keine Lernspiele. Suchtprävention in diesem Bereich sei wichtig. „Die Schulen müssen in der Prävention mehr tun“, war sein klarer Aufruf.
Dass Computerspiele längst kein Nischenprodukt mehr sind, machte Dr. Axel Pols, Chefvolkswirt beim Berliner Branchenverband BITKOM e.V., deutlich. „Ein Drittel aller Deutschen ab 14 Jahre spielt Computer- und Videospiele“, stellte er die Ergebnisse einer aktuellen Forsa-Umfrage vor. Die größte Gruppe (73 Prozent) machten dabei die 14- bis 29-Jährigen aus, die 30- bis 49-Jährigen spielten noch zu 35 Prozent, im Altersbereich von 50 bis 64 Jahren seien es noch 15 Prozent, Ältere griffen nur noch zu 5 Prozent zum Computerspiel. „Derzeit werden auf dem deutschen Markt von den rund 280 Unternehmen mit insgesamt knapp 6000 Beschäftigten rund zwei Milliarden Euro Umsatz erzielt, Tendenz steigend. Die Branche hat noch ein enormes Potential“, prognostizierte Pols. „Schon heute zahlen 43 Prozent der Spieler im Durchschnitt rund 15 Euro.“
Woher kommt der Boom? „Die sozialen Netzwerke tragen viel dazu bei“, stellte Henning fest. Sie hätten die Spiele zum Massenphänomen gemacht. „Der Zugang ist einfach und alle Freunde werden informiert, wenn ich ein Spiel spiele, das macht Appetit.“ Zugleich verändere sich der Markt. Anfangs seien bei Bigpoint noch 95 Prozent der Spieler männlich gewesen, in den vergangenen zwei Jahren habe man die Zielgruppe der Frauen ab 30 Jahren erschlossen. „Der kommende Markt sind Kinderspiele mit Lerninhalten“, schaut er nach vorn, darauf konzentriere man sich jetzt. Auch Wiemken glaubt an das Massenphänomen. „Es ist ähnlich wie damals mit der TV-Serie Dallas, wer nicht regelmäßig schaute, konnte auf dem Schulhof nicht mitreden.“ Ein weiterer Erfolgsfaktor sei das Belohnungssystem, das dem Spieler ständig positives Feedback gibt. „Was man sich im realen Alltag oft ersehnt, erhält man im Spiel.“
Problematisch sei es, dass die Spiele auf ständiges Schauen und Handeln angelegt seien, wer sich beispielsweise im Urlaub nicht um sein Getreidefeld bei „farmville“ kümmere, fände am Ende nur eine verdorrte Wiese wieder. „Das Leben muss also mit den Spielstrategien verknüpft und der Urlaubsort womöglich nach den passenden Onlinemöglichkeiten ausgesucht werden.“ Dass es diese Verknüpfung gibt, bestätigen auch die Beobachtungen von Bigpoint. „In der täglichen Mittagspause von 12.00 bis 13.30 Uhr steigen die Zugriffe auf unsere Server typisch an“, erklärte Henning. Dennoch böten Spiele auch viele Facetten, die wieder ins reale Leben führten. In den Communities virtueller Piraten, Bauern oder Rennfahrer fänden sich Menschen und würden sich austauschen. „Da entstehen dann ganz reale Freundschaften“, so Henning.
„Computerspiele rücken immer mehr in die Mitte der Gesellschaft“, stellte Sören Mohr, Vorsitzender des Clusters Digitale Wirtschaft Schleswig-Holstein (DiWiSH), fest. Den Unternehmen böten die Spiele nicht nur als Werbeplattform eine Chance, sondern auch viel Potenzial für die Fortbildung. Der Aufruf „Spiel mal“ hätte heute mehr Aufforderungscharakter als „Lies mal“.
Die Mediatage Nord 2011 standen in diesem Jahr unter dem Leitthema „ganz schön digital“. Über 20 Veranstaltungen beleuchteten vom 14. bis zum 18. November 2011 im Haus der Wirtschaft, Bergstraße 2 in Kiel unseren digitalen Alltag aus den Blickwinkeln von Medien, Wirtschaft und Recht. Organisiert und koordiniert werden die Mediatage Nord von der IHK Schleswig-Holstein, der Medienanstalt Hamburg / Schleswig-Holstein (MA HSH), der Wirtschaftsförderung und Technologietransfer Schleswig-Holstein GmbH (WTSH) und dem Offenen Kanal Schleswig-Holstein (OKSH).
(nach einer Pressemitteilung der Mediatage Nord)
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