Crossing the line – Janne Höltermanns Videoinstallation „kacheln“ im Lessingbad Kiel
Unser Raumempfinden als Stadtmensch ist so rechtwinklig wie die Linien und Ecken der Architektur, in der wir leben. Unsere Bewegungen werden geregelt und begrenzt durch sichtbare Linien auf dem Boden und unsichtbare Linien in unseren Köpfen. Wir akzeptieren jedes Gartentürchen als Grenze zwischen Drinnen und Draußen, zwischen Dein und Mein. Wir schreiten über Zebrastreifen und treten in gelb markierte Felder, bevor wir eine Zigarette anzünden.
Diese Linien, ob konkret oder imaginär, sind die Ariadnefäden, aus denen wir uns ein Sicherheitsnetz der Orientierung knüpfen. Wie fragil dieses Netz ist, hat Janne Höltermann bereits in ihrer Fotoserie „lots“ (2009) klar gemacht, indem sie die perspektivisch verzerrten Markierungen auf Parkplätzen und Fußgängerwegen nachträglich begradigte und damit eine kubistisch verwirrende Gleichzeitigkeit von An- und Aufsichten erzeugte.
Das strenge Raster der Fliesen im Lessingbad erinnert daher nicht zufällig an das Orientierung gebende Netz von Längen- und Breitengraden auf einer Weltkarte, deren Ozeanflächen sogar das gleiche Türkisblau zeigen wie die Bodenfliesen des Schwimmbeckens. Die rasenden Bilder, die wir sehen, sind aber kein „Point of view“, keine subjektive Kamera, die eine menschliche Wahrnehmung simuliert wie bei Verfolgungsjagden im Hollywoodkino. Sie zeigen den maschinenhaften Blick eines Sensors, der emotionslos die Umgebung scannt und vertraute Zeichen und Orientierungspunkte zu grafischen Mustern reduziert, bis ins dekorativ Ornamenthafte. Die Kamera überquert dabei ungerührt die Markierungslinien, die einst den chlorgetrübten Augen der Schwimmer die Richtung weisen sollten, und im Zusammenspiel aus drei synchronisierten Bildkanälen entstehen Kaleidoskop-Effekte, die endgültig die Dimensionen des Raumes durcheinander wirbeln.
Die gefällige Ästhetik, die diesen Bildern innewohnt, wird durch eine penetrante Tonspur gebrochen, die Hinweise auf den Schaffensprozess gibt. Das Rattern der Installation dringt lautstark durch die ganze „Damenseite“ der Badeanstalt und verrät, dass die Kamera keineswegs schwebt oder schwimmt, sondern sehr bodenständig und erdverbunden mit einem Rollwagen über die Fliesen kachelt.
„kacheln“ in der Damendusche: Janne Höltermanns Beitrag zur Ausstellung „Körpersichten“ im Kieler Lessingbad (Fotos: Janne Höltermann)
Die Kamera ist die eigentliche Protagonistin in Janne Höltermanns durchweg menschenleeren Videos. Am Ende jeder Bahn schlägt das Gerät einen Purzelbaum und stellt die Welt auf den Kopf. Der Apparat wird selbst zum „spinning object“ wie in ihrer gleichnamigen Serie von Kurz-Clips, in denen sich Kreisel, Flaschen und Münzen gegen die Regeln von Zeit und Raum auflehnen.
Das Element der Drehung als Quelle schwindelerregender Verwirrung findet sich mehrfach in Janne Höltermanns Videoarbeiten. In „spin“ (2010) wird eine gläserne Drehtür zum Rührwerk, das gemächlich den Innenraum nach draußen schaufelt und zurück. In „bulbs“ (2007) kreist eine Glühbirne im Licht eines Beamers unablässig über einem Ventilator und wirft mehr Schattenbilder, als ihr zustehen.
Auch in der Videoserie „gyms“ (2008), an die die „kacheln“-Arbeit direkt anknüpft, rumpelt die Kamera über leere Aschenbahnen und Turnhallenböden bis zum finalen Überschlag.
Mit solchen Bildern zieht Janne Höltermann uns den Boden unter den Füßen weg und zerreißt die Netze, die uns auffangen könnten. Wir sollten also besser nicht vom Beckenrand springen. (Lorenz Müller)
Die genannten Arbeiten sind dokumentiert auf
Janne Höltermann (geb.1977) studierte in Madrid und an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel, erhielt 2005 den Muthesiuspreis der NordWestLotto GmbH und war Stipendiatin am Massachusetts College of Art and Design in Boston. Zur Zeit hat sie für zwei Jahre einen Lehrauftrag für digital arts an der Wesleyan University in Middletown, Connecticut.
Mit Ihrer aktuellen Installation „kacheln“ nahm sie an der Ausstellung „Körpersichten“ der Muthesisus Kunsthochschule im Kieler Lessingbad teil (1. bis 24. Juni 2011).
Die Arbeit entstand mit technischer Unterstützung der Filmwerkstatt Kiel der Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein.