Auf der Suche nach sich selbst

„Glücksritterinnen“ (Katja Fedulova, D 2011)

Sechs Russinnen kamen Anfang der 90er Jahre nach Deutschland. Sie waren jung, und ihre Eltern konnten es sich leisten, die jungen Damen aus der unsicheren Situation der Nachwende in der Ex-UdSSR zum Studium nach Deutschland zu schicken. Eine von ihnen war Katja Fedulova, die nun mit „Glücksritterinnen“ ihren ersten Dokumentarfilm vorlegt. Er handelt von ihr und ihren russischen Freundinnen, die sich als Emigrantinnen zu der damaligen Zeit mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert sahen. Fern von daheim sollten sie nach dem Wunsch ihrer Mütter Karriere im kapitalistischen Westen machen. Große Erwartungen beleiten sie, Katja und ihre Freundinnen, bis heute. Der Film erzählt von den Lebensideen dieser Frauen, ob und wie es ihnen gelungen ist, sich von den Karriereträumen mütterlicherseits zu emanzipieren.
Katja, die uns als Erzählerin durch den Film begleitet, erinnert sich daran, wie sie als 17-jährige in St. Petersburg am hellichten Tage, auf offener Straße in ein Auto gezerrt wurde und sich später, vergewaltigt, irgendwo im Stadttreiben aus Besinnungslosigkeit erwachend wiederfand. So nüchtern und zugleich erschreckend wird diese Erinnerung aus dem Off zu einem St. Petersburger Straßenbild dem Zuschauer als Einleitung präsentiert, dass einem leichte Terrorschauer den Rücken runter laufen können.
Katja kam dann nach Kiel, begann ein Kunststudium an der Muthesius Schule und lernte in Kiel die späteren Freundinnen kennen, die sie jetzt ein Stück durch ihr Leben begleitet. So verschieden die Schicksale und Lebensentwürfe dieser Frauen auch sind, immer vergleichen sie sich mit dem Vorbild ihrer Mütter, ob sie wollen oder nicht. Die Töchter rechtfertigen sich bisweilen, setzen sich bewusst von ihren Müttern ab oder erreichen eine fragile Harmonie und eher vordergründige Übereinstimmung mit ihnen. Katja begreift zum Beispiel erst jetzt, dass die von ihr so bewunderte Mutter, eine schon früh zu Chefarchitektin aufgestiegene Frau, sich nicht genügend um sie gekümmert hat. Und: auch ihre zwei Jahre ältere Schwester, Olga, ist als Heranwachsende vergewaltigt worden. Sie hat sich der Mutter nie offenbart, was diese im Gespräch mit Katja ganz verständlich findet. Die Mutter flüchtet sich aus ihrer Hilflosigkeit am Ende in Sprachlosigkeit.
Zu Beginn des Films präsentiert sich Katjas Mutter als sehr sensibel und einfühlsam. Sie scheint Katja in punkto beruflicher Karriere nicht so unter Erfolgsdruck zu setzen wie andere Mütter ihre Töchter in diesem Film, sondern findet eher tröstende und verständnisvolle Worte für die bisweilen an sich zweifelnde Tochter, die noch damit kämpft, ihr eigenes Familieleben mit zwei Kindern und ihrem Berufstraum als Filmemacherin in Einklang zu bringen. Und dennoch bleibt die Mutter nach Aussage von Katja wohl immer Maßstab für ihre Töchter, auch wenn sich die ältere Schwester heute in Italien verheiratet eher saturiert und antriebslos gibt.
Ilona, eine weitere Gefährtin Katjas aus den 90er Jahren, hat zwei Studiengänge erfolgreich abgeschlossen und misst sich als eingebürgerte, verbeamtete Lehrerin für Musik und Mathematik dennoch immer noch an den ehrgeizigen Träumen ihrer Mutter, die meint, ihre Tochter hätte ihre Zeit zu lange an den Hochschulen vergeudet, statt frühzeitig Geld und Karriere zu machen. Es bleibt fast offen, ob das „Ziel“, Kultusministerin zu werden, von Mutter und Tochter nun doch ironisch gemeint ist oder insgeheim chronisch von der Mutter in die Tochter eingepflanzt worden ist und weiterhin von beiden gepflegt wird.
Zhenja ist als einzige von Katjas russischen Freundinnen aus Kiel in die Heimat zurückgekehrt, weil sie nach eigenem Bekunden in Deutschland zu wenig Perspektiven für eine berufliche Karriere fand. Heute ist sie werdende Mutter und ehrgeizige Geschäftsfrau mit eigenem Auto. Ein „prächtiges“ und fleißiges Mitglied einer aufstrebenden russischen Mittelschicht. Bemerkenswert, wie sie sich von ihrer Mutter, die wohl aus der ehemaligen Arbeiterklasse kommt, distanziert. Obwohl sie diese finanziell unterstützt, meidet sie anscheinend den Umgang mit ihr, um nicht in die alten Fehler der Mutter zu verfallen, wie sie sagt.
Einen größeren Kontrast zu den beiden vorher genannten Freundinnen als mit Alesja hätte die Regisseurin wohl nicht finden können. Alesja kämpft mit ihrer Suchtkrankheit im Entzug, belächelt den Karrierewahn der jungen Russinnen von heute und sehnt sich nach ihrer Tochter, die beim Papa lebt. Mit ihrer Mutter, die alles Unglück ihrer Tochter auf die Gene des Vaters schiebt und jegliche erzieherische Verantwortung von sich weist, hat sie eine „unverbesserliche“ Besorgte in der Familie. Unübertroffen in dieser Hinsicht ist jedoch die Mutter von Tatjana. Tatjana schlägt sich als Allerziehende mit ihrer 12-jährigen Tochter in Hamburg durch. Oma will dem schon leicht pubertierenden Mädchen Benimm beibringen und droht schon mal mit Prügelstrafe, wenn das Kind beim Lernen nicht so parieren will wie die ältere Dame es wünscht.
Katja Fedulova ist mit „Glücksritterinnen“ ein nachdenklicher Film gelungen, eine feminine Bildungsreise durch das zusammenwachsende Europa. Er gewinnt durch den intimen Zugang, den die Filmemacherin zu ihren Protagonistinnen hatte. In ihm paaren sich Selbstzweifel und Gelassenheit zu einer gelungenen Reflexion über Frauenbilder von heute. Alle diese Frauen Mitte 30 scheinen sich irgendwie gefunden zu haben und sind dennoch immer noch im Umbruch. Auch die Regisseurin scheint trotz allem Erreichten immer noch auf der Suche nach sich selbst zu sein. (Helmut Schulzeck)
„Glücksritterinnen“, Deutschland 2011, 80 Min., Farbe, Regie: Katja Fedulova, Buch: Ulrike Zinke, Kamera: Michael Kotchi, Jenny Lou Ziegel, Schnitt: Sylke Rohrlach, Produzent: Max Milhahn, Produktion: DFFB, gefördert von der Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein GmbH (FFHSH). „Glücksritterinnen“ hat auf dem Filmfestival „Achtung Berlin. New Berlin Film Award“ (Berlin, 13. – 20. April 2011) seine deutsche Festivalpremiere:
  • Fr, 15.4., 20.15 Uhr, Babylon 1
  • So, 17.4., 20.15 Uhr, Passage 1
  • Mo, 18.4., 20.30 Uhr, FaF 2
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