61. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2011

Eine Frage der Ehre

„The Forgiveness Of Blood“ (Joshua Marshton, USA/Albanien/Dänemark/Italien 2011)

Malerisches Nordalbanien – schroffe Berglandschaften mit grünen Tälern, verwunschene Wasserläufe, unberührte Natur. Der Ausblick vom Pausenhof der Schule der kleinen Ortschaft zeigt gerade eine solche Umgebung. Nik hat aber keine Augen dafür, sondern nur für die bildhübsche Bardha. Der Schultag ist zu Ende, und die Jungen treffen sich noch im Internetcafé. In diesem abgelegenen Landstrich unweit der montenegrinischen oder kosovarischen Grenze ist dieses Café das Tor zur Welt. Deshalb möchte Nik nach der Schule ja auch selber eines eröffnen.
Niks jüngere Schwester Rudina ist 15 und zieht mit den Freundinnen zu Fuß von der Schule los. Sie hat Glück – ihr Vater passt sie ab und nimmt sie mit dem Pferdewagen den langen Fußweg mit nach Hause. Er verdient den Lebensunterhalt der Familie als Brotlieferant mit genau einer Pferdestärke. Das Tier hört auf den Namen „Klinsmann“ und wird dementsprechend vielleicht keine Weltmeisterschaft gewinnen, aber lang genug durchhalten.
Heute muss das Pferd tatsächlich eine längere Strecke zurücklegen als geplant, denn der Nachbar verwehrt ihnen die Durchfahrt. Diese kleinlichen Streitereien hören wohl nie auf, und Rudina kann dieses Mal gerade noch eine Schlägerei zwischen den beiden Männern verhindern. Ihr Vater hat zwar Recht mit seiner Wut, aber deswegen sollen sie sich doch nicht die Köpfe einschlagen.
Man kann Rudina nicht ansehen, ob sie ahnt, dass dieser Wegerechtsstreit noch ein schlimmes Nachspiel haben wird. Denn wenige Tage später ist der Nachbar tot, erschlagen von Niks und Rudinas Onkel, den der Nachbar zuvor angegriffen hatte. Der Vater war auch dabei und konnte (oder wollte?) das Verbrechen nicht verhindern. Ein Einsatzkommando der Polizei stürmt das Anwesen der Familie und nimmt den Vater in Gewahrsam. Die Staatsgewalt hat somit unverzüglich gehandelt und der Rechtsgang wurde eingeleitet.
Doch in Nordalbanien zählen die Maßnahmen der staatlichen Justiz wenig, denn hier gilt das traditionelle Gewohnheitsrecht der Blutrache: Kein männliches Mitglied der Familie darf das Haus mehr verlassen, denn sie sind in Lebensgefahr. Außer Nik, dem Ältesten, muss also auch der siebenjährige Bruder das Haus hüten. Kein Schulgang mehr, kein Besuch von Freunden, jeder Schritt vor die Tür kann eine Kugel im Kopf bedeuten. Noch schlimmer wird es, als der Vater aus dem Gefängnis entlassen wird und sich in den Bergen versteckt – wenn der Staat die Ehre der Nachbarsfamilie nicht rettet, wird sie alsbald selber für Rache sorgen.
Nik findet sich in einer ausweglosen Situation wieder, langweilt sich, versucht den Vater bei dessen seltenen nächtlichen Besuchen zu überreden, ins Gefängnis zurück zu gehen. Er bastelt sich aus einer Metallstange und Zement sogar Hanteln zum Muskeltraining als Zeitvertreib. Für Rudina hingegen gilt ab jetzt das Gegenteil von Langeweile, denn sie übernimmt die Brotlieferungen ihres Vater, um die Familie durchzubringen. Einige Kunden nehmen das Brot nicht mehr ab, aus unausgesprochenen Gründen. Rudina gelingt ein Gespräch mit einer Verwandten des Nachbarclans, die ebenso wie Rudina die Fehde beendet wissen möchte – aber Frauen haben in diesen Angelegenheiten nichts zu melden.
Ausweglose Situation: Tristan Halilaj als Nik in „The Forgiveness Of Blood“ (Foto: Berlinale)
Was wie ein unwirkliches Relikt vergangener Zeiten wirkt, ist im Norden Albaniens blutige Realität: Das 500 Jahre alte Gewohnheitsrecht des „Kanun“wird in diesen einsamen Regionen nach dem Ende des Kommunismus wieder eifrig praktiziert. Es besagt u.a., dass bei Ehrverletzungen Blutrache an den männlichen Mitgliedern der befehdeten Familie ausgeübt werden darf. Die Betroffenen können sich dem meist nur durch die Flucht entziehen – und die erfordert neben der Trennung von der Familie in der Regel viel Geld, um sich beispielsweise ein Visum leisten und sich ins Ausland durchschlagen zu können. Ein anderer Ausweg ist die „Besa“, ein zumindest zeitlich befristeter „Waffenstillstand“, der durch die Einigung der verfeindeten Clans z.B. mittels eines Mediators herbeigeführt werden kann. – Auch Nik ist kurzfristig, während sein Vater im Gefängnis sitzt, durch die „Besa“geschützt und kann sogar Bardha wiedersehen. Doch kaum ist dieser befristete Friede vorbei, fallen Schüsse durch die Hauseingangstür der Familie.
Schöpfer dieses bemerkenswerten Films ist der US-amerikanische Regisseur Joshua Marston, bekannt geworden durch seinen Spielfilm „Maria voll der Gnade“ von 2004. Er verfasste zusammen mit dem albanischen Autor und Produzenten Andamion Murataj das Skript von „The Forgiveness Of Blood“, und bei der 61. Berlinale erhielten beide den Silbernen Bären für das beste Drehbuch. Marston und Murataj reisten vor den Dreharbeiten gemeinsam einen Monat lang durch Nordalbanien, um mit einer Vielzahl von Menschen zu sprechen, die Auskünfte aus erster Hand über die praktizierte Blutrache geben konnten: Familien, Mediatoren, Lehrer. Die Hauptdarsteller – Tristan Halilaj als Nik und Sindi Laçej als Rudina – fanden sie durch Castings an Schulen.
Für Tristan Halilaj und Sindi Laçej gehören weder der „Kanun“geschweige denn die Blutrache in das moderne Albanien – aber ignorieren kann man sie nicht. Joshua Marston betont, dass er Albanien einerseits als äußerst modernes Land erlebt habe – mit einem andererseits sehr schwierigen und ernsten Problem. Mehrere zehntausend Menschen sollen zurzeit in Albanien durch die Tradition der Blutrache betroffen sein. Kinder aus bedrohten Familien dürfen die Schule nicht mehr besuchen, und engagierte Lehrer reisen immer wieder zu diesen Familien, um Unterricht zu geben. Flüchtige halten sich in den Bergen versteckt. Da bei den Unruhen des Jahres 1997 in dem Drei-Millionen-Einwohner-Staat in großer Zahl Waffendepots der Miliz geplündert wurden, gibt es heute noch in Hülle und Fülle Waffen in Privatbesitz. Und gerade auf allen im System der Blutrache gefangenen jungen Männern lastet ein extrem großer gesellschaftlicher Druck – wer ist so stark, sich ethisch statt dessen an den Maximen des Rechtsstaates zu messen?
Am Ende wählen Nik und Rudina zwei völlig unterschiedliche Wege in die Zukunft: Nik darf bzw. muss nach einem Gespräch mit der Nachbarsfamilie fliehen, und Rudina wird als Ernährerin der Familie bleiben. „Lösungen“ kann und will „The Forgiveness Of Blood“ nicht bieten, so der Regisseur, aber verschiedene Perspektiven, die man unterschiedlich bewerten kann. Mit seinem zweiten Spielfilm hat Joshua Marston ein eindringliches Werk geschaffen, das sachlich und in leisen Tönen eine Welt ausmalt, die leider nicht so fern ist, wie man als Mitteleuropäer glauben möchte. (gls)
„The Forgiveness Of Blood“, USA/Albanien/Dänemark/Italien 2011, 109 Min., 35 mm, 1:1,85, Buch: Joshua Marshton, Andamion Murataj, Regie: Joshua Marshton, Darsteller: Tristan Halilaj, Sindi Lacej, Refet Abazi, Ilire Vinca Celaj
Cookie Consent mit Real Cookie Banner