61. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2011
Die zweite Chance
„Über uns das All“ (Jan Schomburg, Deutschland 2011)
Die Zukunft scheint nur Gutes bereit zu halten für Martha und Paul. Sie ist Lehrerin, Anfang 30, er hat gerade seinen Doktor in Medizin gemacht. Auf ihn wartet eine Stelle in Marseille, sie will in ein paar Tagen nachkommen. Vertrautheit, Sicherheit, gemeinsame Pläne. Als zwei Polizistinnen vor Marthas Tür stehen und ihr mitteilen, dass sich Paul auf einen Parkplatz in Marseille im Auto erstickt hat, reagiert sie zunächst mit Verweigerung. Auf der Suche nach dem Motiv für den unerklärlichen Selbstmord entdeckt Martha, dass Paul eine perfekte Fassade aufgebaut hat, sein Studium längst abgebrochen, seine Doktorarbeit abgeschrieben hat. Als sie schließlich Pauls rückgeführten Körper identifiziert, hat sie auch einen Fremden vor sich. Ihr Verlust ist nicht nur schmerzhaft, sondern unerklärlich, der Mensch an ihrer Seite ihr doppelt entrissen.
Jan Schomburg erzählt diesen ersten Akt sehr pointiert aus der Perspektive der rational handelnden und verstehen wollenden Martha. Ihrem Verstehen sind absolute Grenzen gesetzt: Freunde oder Kommilitonen, die Auskunft geben könnten, gibt es keine. Es ist, als hätte Paul außerhalb der gemeinsamen Hemisphäre nie existiert. Ihr gemeinsames Leben, Marthas Liebe, manifestieren sich nur noch in gepackten Umzugkartons. Sandra Hüller meistert diesen Fall aus der Höhe partnerschaftlicher Sicherheit in das bodenlose Unbekannte souverän. Schomburg verhindert eine zu frühe emotionale Anteilnahme an der Figur der Martha. Er lässt Raum für Reflektion: Wie leicht kann man sich in einer Lebenslüge verlieren, wie fatal kann sich das auswirken?
Auf der Spur einer Lebenslüge: Sandra Hüller in „Über uns das All“ (Foto: Berlinale)
Alexander ist Geschichtsprofessor, seine Studenten lieben ihn. In seiner Fernbeziehung läuft es nicht so gut, seine Freundin hält Geschäftstermine für wichtiger als seinen Geburtstag. Alexander hingegen sehnt sich nach Familienleben. Eine schicksalhafte Begegnung im Fahrstuhl bringt Alexander und Martha zusammen. Der Perspektivwechsel in der Erzählung bringt durchaus Suspense in das Drama und führt erneut zu der Frage, wie gut man einen Menschen wirklich kennen lernen kann. Gleichzeitig zieht Schomburg eine deutliche Metaebene ein. Mit dem Hegel-Zitat, der sich (zweimal) wiederholenden Geschichte, die Alexander seinen Studenten einbimst, weist Schomburg auf eine Zwangsläufigkeit hin, die manche Schicksal nennen. Auch Martha verstrickt sich jetzt in eine Lebenslüge, verschweigt sie doch Pauls Suizid und versucht sich an einer Wiederherstellung gewohnter Verhältnisse. In dieser Situation scheint der „Neuanfang“ mit Alexander zum Scheitern verurteilt.
Man mag die Versuchsanordnung in „Über uns das All“ etwas zu deutlich, gar akademisch finden, doch die Fragen, die Schomburg aufwirft, sind nicht nur interessant gestellt, sondern durch Sandra Hüller und Georg Friedrich außerordentlich gekonnt dargestellt. Die beiden führen die abstrakte Reflektion über fundamentale Unsicherheit und existenzielle Einsamkeit glaubhaft zurück zum manchmal unvernünftigen Pragmatismus menschlicher Entscheidungen. Und da heißt es schlicht: Jeder hat eine zweite Chance verdient. (dakro)
„Über uns das All“, Deutschland 2011, 88 Min., Regie: Jan Schomburg, Darsteller: Sandra Hüller, Georg Friedrich, Felix Knopp.