61. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2011

Die Welt führt Regie

„Life In A Day“ (Kevin McDonald, GB 2011)

„Life In A Day“ ist ein weltweites Experiment: Die Nutzer der Video-Plattform YouTube waren aufgefordert, am 24. Juli 2010 Szenen aus ihrem Leben zu filmen und auf YouTube einzustellen. Lediglich ein paar simple Fragen wie „Was hast du in der Tasche?“, „Was liebst du?“ oder „Wovor hast du Angst?“ wurden den Filmern als dramaturgischer Leitfaden an die Hand gegeben. 80.000 Beiträge aus 197 Ländern wurden binnen einer Woche eingestellt. Aus 4.500 Stunden Material hat Regisseur Kevin McDonald („Last King Of Scottland“, 2006, „State Of Play“, 2009) mit einem großen Team von Rechercheuren und Cuttern aus knapp 600 ausgewählten Kurzfilmen einen 95-minütigen, globalen Tagebucheintrag destilliert. Der rauscht in atemberaubendem Tempo über den Sehnerv direkt in die Synapsen, zündet ein visuelles Feuerwerk und spricht auch dann und wann das Emotionszentrum an.
Folgendes Experiment bietet sich für den Kinobesucher: Welche Szenen, welcher Eindruck bleiben ein paar Stunden nach der Vorstellung? Der Vater, der mit seinem Sohn morgens eine Kerze vor dem Trauerfoto der Mutter anzündet, bevor der Kleine an den Fernseher darf. Der Patient, der nach der Herzoperation noch mit Sauerstoffmaske die Morgenzeitung liest und sich über sein neues Leben freut. Die erste Rasur eines Teenagers. Ein schwules Coming Out mit der Großmutter am anderen Ende der Telefonleitung. Afrikanische Frauen bei der Erntearbeit, Hochlandschäfer bei der Käseerzeugung. Der kleine Schuhputzer, der afghanische Pressefotograf, albernde GIs. Anrührende Liebeserklärungen und freimütige Angstgeständnisse. Die Loveparade-Katastrophe in Duisburg. Dazwischen Alltagsmomente: Aufstehen, Zähneputzen, Frühstück, Arbeit.
Das Leben ist ein Wunder: „Life In A Day“ (Foto: Berlinale)
Sogar einen selbstreflexiven Moment erlaubt sich „Life In A Day“ gegen Ende. Kurz vor Mitternacht des 24. Juli sitzt eine junge Frau in ihrem Kleinwagen, sich selbst filmend, und bedauert, dass sich an diesem Samstag so gar nichts in ihrem Leben abspielte außer Überstunden im Büro. Dabei wollte sie mit ihrem Videobeitrag beweisen, dass auch sie existiere, auch wenn sie kein aufregendes und vermeintlich filmenswertes Leben hätte. Ein Video auf YouTube als Existenznachweis? Das darf man wohl durchaus als kritische Anmerkung und Warnung auffassen.

„Life In a Day“ ist ein faszinierendes Kaleidoskop, Augenfutter, eine emotionale Achterbahnfahrt (auch dieses Bild taucht übrigens auf). Der Film will den endgültigen Beweis antreten: Die Welt ist ein Dorf, wir kaufen unsere Zahncreme nur an verschiedenen Straßenecken. Und tatsächlich, dank YouTube, Facebook, Twitter und Co. gibt es nicht nur die Global Economy, sondern auch die Global Community. Die bedient sich, das ist die gute Nachricht, der sozialen Netzwerke auf unvorhersehbare, spaß-orientierte, aber zunehmend politisch-idealistische Art. „FaceMash“ war gestern, jetzt finden inoffizielle Volksabstimmungen statt, man verabredet sich nicht nur zu Partys, sondern zu Kundgebungen. Es werden Diktaturen gestürzt. Das hat wohl selbst Mark Zuckerberg nicht auf dem Zettel gehabt. Auch „Life In A Day“ nicht, der sich ausschließlich im Privaten bewegt, powered by LG („Life Is Good“). Doch letztlich ist die Kernaussage eine politische, humanistische: Das Leben ist ein Wunder und jedes Menschleben einzigartig und kostbar. (dakro)
„Life In A Day“, GB 2011, 95 Min., Regie: Kevin McDonald.
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