52. Nordische Filmtage Lübeck 2010

Zeitgeschichtlicher Referenzpunkt

„Neue Vahr Süd“ (Hermine Huntgeburth, D 2010)

„Schneller, Lehmann. Schon weg sein. Schon wieder hier sein.“ Die Grundausbildung bei der Bundeswehr hat ihre eigene Sprache, aber nicht unbedingt eine eigene Logik. Das stellt auch der frisch gebackene Wehrdienstleistende Frank Lehmann spätestens bei der berüchtigten ABC-Übung schnell fest. „Nur nicht auffallen“ lautet zwar die Parole, doch bei sprachlichen Ungereimtheiten hält es Lehmann nicht auf dem Stuhl: Wenn der Standortpfarrer verspricht, er sei für die Rekruten „jederzeit ansprechbar“, dann nimmt Lehmann ihn beim Wort. Seine Kameraden wählen Lehmann prompt zum Vertrauensmann. Der Auftakt zu einer Menge Ärger für Frank Lehmann.
Nur nicht auffallen beim ABC-Alarm
Nach dem Überraschungserfolg von Sven Regeners Debutroman „Herr Lehmann“ (2001) und einer erfolgreichen Verfilmung durch Leander Haussmann war es eigentlich keine Frage der Zeit, bis auch das Lehmann-Prequel „Neue Vahr Süd“ (2004) das Licht der Leinwand erblickt. Die Filmrechte mussten allerdings erst wieder frei werden, bevor die ARD mit dem Studio Hamburg als Produzenten-Team und Hermine Huntgeburth als Regisseurin sich der Adaption von Regeners zweitem Roman annehmen konnten. Herausgekommen ist ein straffer Fernsehfilm von knapp 90 Minuten, der mit einem lustvoll aufspielenden, jungen Ensemble, liebevoller Ausstattung und flotten 80er-Indie-Soundtrack punkten kann.
30. Juni 1980: Frank Lehmann (Frederick Lau) muss zum Bund und „eigentlich ist er gar nicht der Typ dafür“. Zu verweigern hat er schlicht vergessen. Sein Zimmer in der elterlichen Wohnung im Bremer Vorort Neue Vahr ist bereits nach den ersten Wochen der Grundausbildung zum Hobby-Raum für den Vater umfunktioniert und Frank verdrückt sich frustriert in das Bremer Ostertor-Viertel, wo ihm sein links-organisierter Schulfreund Martin (Eike Weinreich) ein Durchgangszimmer in seiner Wohngemeinschaft anbietet. In den nächsten Monaten pendelt Frank zwischen der absurd-komischen, hierarchischen Welt der Bundeswehr und dem anarchischen, befindlichkeitsbestimmten Soziotop aus Studenten, Autonomen und Punks hin und her. Merkwürdigen Zeitgenossen und abstrusen Situationen begegnet Frank in beiden Sphären. Die Notwendigkeit zur Selbstbehauptung reißt Frank nach und nach aus seiner mit Lakonie verzierten Passivität. Leider legt er sich als Vertrauensmann mit dem Kompanie-Chef (Ulrich Matthes) an und verliebt sich ausgerechnet in Sybille (Miriam Stein), die Flamme seines WG-Mitbewohners Martin.
Während Regener auf knapp 600 Seiten die Erlebnisse seines Helden in einem zäh fließenden Zeitstrom so weit auseinander ziehen konnte, dass scheinbar nichts passierte, mussten Huntgeburth und Drehbuchautor Christian Zübert sogar etliche Figuren und Szenen streichen. Nun ja, eine lässliche Sünde und eine Notwendigkeit zudem, will man aus „Neue Vahr Süd“ nicht einen Fernseh-Mehrteiler machen. Auch hätte eine halbe Kino-Stunde mehr den Kohl nicht fett gemacht. Franks witzige, um Sinn ringende innere Monologe muss man halt im Buch nachlesen. Die viel wichtigere Aufgabe für die Adaption des Romans ist, die sehr langsame Wandlung des in seiner Verwunderung über die Absurdität der Verhältnisse gefangenen Frank zum Widerspruch anmeldenden „Herrn Lehmann“ zu bebildern. Und das gelingt dem Fernsehfilm eben durch die Abfolge der in immer kürzeren Abständen auf Frank einprasselnden Katastrophen: Seine nachträgliche Verweigerung scheitert, Sybille gibt ihm einen Korb, und Martin schmeißt ihn aus der WG. Vom Kompanie-Chef zum Fackelträger beim feierlichen Gelöbnis im Weserstadion verdammt, erlebt Frank den Zusammenstoß von Autonomen und Ordnungskräften vorm Stadion. Für Frank Lehmann die Stunde der Entscheidung: Auf welcher Seite steht er? Oder findet er gar einen eigenen Weg, raus aus der „Neuen Vahr Süd“ und ab in Richtung Berlin, damals Heimat aller Flüchtigen und Suchenden.
Zeit der Entscheidung: Frank Lehmann (Frederick Lau) zwischen den Fronten
Die frühen 80er waren sicher nicht so cool wie in Hermine Huntgeburths „Neue Vahr Süd“, mehr Pink Floyd und weniger The Cure, eher Nicki und Parka als tailliertes Hemd und Trenchcoat. Aber das bundesrepublikanische Befinden der Twenty-Somethings zwischen den über den kalten Krieg eingefrorenen Fronten des Nato-Doppelbeschlusses und der Lieber-rot-als-tot-Dogmatik fängt Huntgeburth pointiert ein. Damals schienen die Gräben deutlich sichtbar, und für einen sollte man sich entscheiden. Doch wie Frank Lehmann verweigerten sich ganze Generationen der ideologischen Vereinnahmung, zogen die individuelle Entscheidung den „geschlossenen Reihen“ vor. Wenn sich heute die Protestkultur wieder regt, gibt es weniger politische Blöcke, als betroffene Bürger. Oder wer hätte sich damals vorstellen können, dass ein Ex-CDU-Generalsekretär als Schlichter in einem Bürgerprotest agiert und von allen Seiten akzeptiert wird. Schön daher, dass Regener und Huntgeburth mit einer Geschichte wie „Neue Vahr Süd“ in humorvollem Ton einen zeitgeschichtlichen Referenzpunkt setzen. (dakro)
„Neue Vahr Süd“, D 2010, 90 Min., Digi-Beta. Regie: Hermine Huntgeburth, Buch: Christia Zübert, Kamera: Sebastian Edschmid, Schnitt: Eva Schnare, Musik: Jakob Ilja, Darsteller: Frederick Lau, Eike Weinreich, Miriam Stein u.a., Produktion: Lisa Blumberg, Studio Hamburg.
Der Film ist am 1. Dezember 2010, 20.15 Uhr in der ARD zu sehen.
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