Das Gift des Verbrechens
„Mein Glück“ (Sergei Loznitsa, Deutschland, Ukraine, Niederlande 2010)
Zu Beginn von „Mein Glück“ schleifen zwei Männer einen leblosen Körper zu einer Grube. Arme und Beine sind zu sehen, keine Gesichter. Die Leiche fällt in die Grube, Beton ergießt sich, ein Bagger schiebt Erde drauf. Aus diesem Grab steht kein Menschensohn wieder auf. Der Titel ist reine Ironie. Weder gibt es eine Figur, die „ich“ sein könnte, noch handelt der Film vom Glück, jedenfalls nicht direkt. Anflüge von Glück werden umgehend zerstört. Fast vollkommen abwesend ist dieses verdammte Glück. Fast.
„Mein Glück“ von Sergei Loznitsa zieht dem Zuschauer den Boden unter den Füßen weg. Loznitsa unternimmt keine Anstrengungen, seine Figuren einzuführen. Sie sind einfach da. Oft weiß man kaum noch, wo man sich befindet, wem man zuschaut. Das ist Absicht, denn alles Gezeigte folgt einem grimmigen Prinzip: Jeweils gibt es einen rüden Mord aus niederen oder gar keinen Motiven. Der anonyme Anfang ist dafür die Matrix. Und am gefährlichsten lebt, wer menschliche Regungen zeigt. Aber auch dem Schurken ist der Mensch ein Wolf. Keiner ist sicher.
Ein Lastwagenfahrer wird von einer jungen, vielleicht minderjährigen Prostituierten angesprochen. Er geht zum Schein darauf ein. Als er sie aber nach Hause fährt und ihr Geld für Essen gibt, wirft sie ihm die Scheine wütend vor die Füße. Wofür er sich halte. Sie verdiene ihren Lebensunterhalt selbst. „Damit“, sagt sie und zeigt auf ihr Geschlecht. Kurz darauf wird er von ein paar Männern überfallen. Als sie die Ladung prüfen und nur Mehl finden, sind sie enttäuscht. Dafür habe es sich kaum gelohnt, „den armen Kerl“ niederzuschlagen. Die kommerzielle Verwertungskette funktioniert als Ethos.
Was zynisch klingt, ist doch vor allem traurig. Und trotzdem ist „Mein Glück“ mehr als eine moralische Parabel. Davor bewahren den Film Gegenwärtigkeit und Genauigkeit. Regisseur Loznitsa fasst oft verschiedene Aktionen in ein gemeinsames Bild. Dadurch entstehen bestechende Zusammenhänge. Zum Beispiel sehen wir einen Polizisten, der bei einer willkürlichen Verkehrskontrolle seine Macht demonstriert. Während er links im Bild lässig neben dem gestoppten Wagen steht und den Fahrer schikaniert, schielt er grinsend immer wieder nach rechts in den Hintergrund. Dort lässt sein Kollege eine Frau sich tief in den Kofferraum beugen, um ihr Gesäß zu betrachten. Machtmissbrauch, staatlich wie sexuell, in einem Bild.
Und doch scheint das Glück durch. Als menschliche Fähigkeit, als zärtliche Geste. Ein Offizier tritt die Heimreise aus dem Krieg an. Er hat Geschenke für seine Frau. Er freut sich auf ihre Freude. Ein höherrangiger Offizier nimmt die Geschenke an sich. Bei Widerspruch droht Gefängnis. Als der Zug abfährt, erschießt der Offizier aus dem Fenster heraus den Dieb. Damit ist alles zerstört. Die Rache sühnt nicht, sie vermehrt den Hass. Das Glück hat es nicht leicht in dieser Welt. (Sven Sonne)
„Mein Glück“ („Schastye moe“), Deutschland, Ukraine, Niederlande 2010, 127 Min., Regie: Sergei Loznitsa. Weitere Aufführung beim Filmfest Hamburg: Do, 7.10.2010, 19 Uhr, Abaton (Allende Platz 3).