Poesie des erinnerten Vergessens
“Poetry” (Lee Changdong, Korea 2010)
Dinge zum ersten Mal wahrnehmen. Sich an Dinge erinnern, als würde man sie zum ersten Mal wahrnehmen. Das ist das Geheimnis der Poesie. So lehrt es in “Poetry” jedenfalls ein Lyriker, der am örtlichen Kulturzentrum interessierte Kursteilnehmer in die Dichtkunst einzuweihen versucht. Eine der Teilnehmerinnen ist Mija. Sie ist 66, betreut als Pflegerin einen Schlaganfallpatienten und erzieht allein ihren heranwachsenden Enkel. Mija ist besessen von Schönheit. Blumenmuster verzieren ihre Kleidung, luftige Hüte bändigen ihr Haar, das ein freundliches, vom vielen Lächeln runzliges Gesicht rahmt. Aber gerade das Erinnern fällt ihr zunehmend schwer, einzelne Worte entziehen sich dem Gedächtnis. Sie hat Alzheimer im Anfangsstadium.
Nun bricht das Hässliche in Mijas Welt ein. Ihr Enkel hat mit fünf anderen Jungen zusammen ein Mädchen vergewaltigt. Und das Mädchen hat sich umgebracht. Die Väter der anderen Jungen verlangen von ihr, an einer großangelegten Vertuschung teilzunehmen. Der Mutter des Mädchens soll Geld angeboten werden, Geld gegen Schweigen. Schließlich gehe es um die Zukunft der Jungen. Auf einmal soll sie ihrem Feind dienen, dem Vergessen. Und sie soll eine Tat vergessen helfen, die das Gegenteil von Schönheit und Poesie bedeutet. Sie soll sich verleugnen.
Der koreanische Regisseur Lee Changdong hat mit “Poetry” einen Film gedreht, der das Dilemma der Hauptfigur auch auf sich selbst anwendet. Wie ist Schönheit zu erreichen in einer Welt die so viel Hässlichkeit enthält? Wenn das Mädchen nach ihrem Selbstmord aus dem Fluss gezogen wird, erscheinen dazu die Buchstaben des Titels auf der Leinwand: “POETRY”. Das Leben ist der Stoff der Kunst, und zum Leben gehört der Tod, in diesem Fall: die gewaltsame Tötung. Die überwältigend zarte und luftige Gestaltung steht in einem produktiven Gegensatz zum drastischen Inhalt.
Einmal muss Mija weinen angesichts der Last auf ihrem Gewissen. Sie steigt dazu unter die Dusche. Erst wenn die Wasserstrahlen ihre Tränen auffangen, lässt sie ihnen freien Lauf. So steht es auch mit dem Film. Gibt man sich seinem Zauber gar zu sehr hin, läuft man Gefahr, die dahinter verborgenen Ungeheuerlichkeiten zu übersehen. Weil er sie in eine – genau – poetische Oberfläche kleidet. “Poetry” – in Cannes mit dem Drehbuchpreis geehrt – ist ein kleines Meisterwerk. (Sven Sonne)
“Poetry” (“Shi”), Korea 2010, 139 Min., Regie: Lee Changdong. Weitere Vorstellung beim Filmfest Hamburg: Mi, 6.10.2010, 21.45 Uhr, Cinemaxx 2 (Dammtordamm 1).