Going East Again
Filmgruppe Chaos in Osteuropa
Wir waren schon ein Jahr zuvor im Wilden Osten und hatten nun die Möglichkeit etwas mehr von den Ländern mitzubekommen, als wir es bei dem ersten Besuch vermochten. Bialystok in Podlachien an der Ostgrenze Polens war wieder die erste Station unserer Reise. Unsere Gastgeber organisieren unabhängige Filmemacher in einer Region, in der es weit und breit keine Filmhochschule gibt. Mit den Programmen der lokalen Filmer reisen sie durch Europa und auch weiter in den Osten. Sie nutzen ihre Lage an der Ostgrenze, um so EU-Mittel für ihre Arbeit zu bekommen. Diesmal fanden unsere Veranstaltungen an einer Uni statt. Wir hatten ein buntes Kurzfilmprogramm aus Deutschland mitgebracht, und ein weiteres Angebot war Filmunterricht. Experimentelle Filmbearbeitung von klassischem Filmmaterial war für die Studenten aus dem digitalen Zeitalter etwas ziemlich Aufregendes. Den Workshoptitel “The Beauty of Destruction” meinten wir auch im Wortsinne: Wir verteilten Skalpelle, Radierungswerkzeuge und Schmirgelpapier an Teilnehmer, mit denen sie sich über die Filmemulsion hermachten. Besondere Begeisterung löste die Arbeit mit einem umgebauten Filmprojektor aus, mit dem man jedes Bild langsam zerschmelzen lassen kann, bis es Blasen wirft und schließlich aufreißt.
Unsere Filmzusammenstellung sollte auf unserer Tour stets die Menschen aus der Reserve locken und mehr von sich preisgeben lassen, als man es in einem Gespräch mit Gästen erwarten konnte. Man mäkelte herum, das Programm sei nicht undergroundig genug und die Kirchenkritik des Zeichentrickfilms “Judas & Jesus” sei “für Polen doch kalter Kaffee”. Man hat es scheinbar schwer in dem Land, sich neu zu definieren, nach dem Wechsel von einem sozialistischen System alter Prägung direkt in die Marktwirtschaft. Man will beweisen, den Anschluss nicht verpasst zu haben, und trägt Subkulturelles von Hiphop-Klamotten bis zu Piercings zur Schau. Das Verhältnis zum den weißrussischen Nachbarn ist etwas befremdlich. Es ist das einzige europäische Land, das noch von einer kommunistischen Partei regiert wird. Auch wenn die Menschen dort in einer wahrlich schwierigen ökonomischen und politischen Situation sind, konnten wir den polnischen mitleidigen Blick nach Belarus nicht nachvollziehen, als handle es sich um das schlimmste Entwicklungsland überhaupt.
Filmgruppe Chaos in Grodno (Fotos: Karsten Weber)
Sicherlich ist es nicht leicht, in einem Land klarzukommen, in dem ein Lehrer 200 € und ein Arzt 300 € im Monat verdient, aber die Menschen haben gelernt, sich damit zu arrangieren, wie auch mit einem diktatorischen Staatsapparat. Vieles muss improvisiert werden, und gegenseitige Hilfe und informelle Netzwerke sind die Folge. Wir bekamen gleich hinter der weißrussischen Grenze eine Kostprobe. Wir hatten uns einen Nagel in den Reifen gefahren, und der langsame Luftverlust wurde zu einem echten Problem, als wir feststellten, dass die Tankstellen keinen Luftservice hatten. Schon fast auf der Felge erreichten wir schließlich eine Werkstatt. Man flickte den Reifen in Windeseile und weigerte sich, Geld von uns anzunehmen. Ist doch eine Selbstverständlichkeit, und eine Schwester arbeitet schließlich in Deutschland. Es ist auch nahezu unmöglich, in Weißrussland in eine Radarfalle zu fahren, denn jeder entgegenkommende Wagen warnt einen per Lichthupe.
Ankündigungsplakat für den Filmabend mit der Filmgruppe Chaos
In Grodno hatten wir einen Auftritt in einer zu einem winzigen Kulturzentrum umgebauten Garage. Es gehörte nicht so viel dazu, den Laden brechend voll zu kriegen, aber mit der Begeisterung war man dort nicht so zurückhaltend wie in Polen. Es wurde gleich ein Interview mit uns gefüht, um Nachwuchsfilmern Mut zur unabhängigern Filmarbeit zu machen. Untergebracht wurden wir bei einem talentierten Filmemacher. Es sollte noch ein langer Abend in seiner kärglichen Plattenbauwohnung werden. Freunde, eine Menge Vodka und traurige russische Weisen, von einer Gitarre begleitet, prägten den unvergesslichen Abend mit flammenden Diskussionen.
Filmischer Underground im Untergrund
In Baranavici war ein Jugendclub der Veranstaltungsort. Man dachte sich, man müsse die Jugend mit einem Musikprogramm anlocken, und kündigte eine lange Nacht an, die wir mit Kurzfilmen beginnen sollten, um dann mit drei DJs weiterzumachen, die wir mit VJ-ing begleiten sollten. Wir hatten bereits in China beste Erfahrung gemacht mit einem kulturellen Crossovermix mit dem, was wir vor Ort an Bildern fanden, und dem, was wir mitgebracht hatten. Wir gingen zur nächsten Fernsehstation und bekamen dort zwei DVDs, die die graue Stadt in den schillerndsten Farben zeigten – mit all ihren Betriebsfesten und Volkstanzgruppen. Der Veranstalter war ziemlich überrascht, dass fast alle Zuschauer allein wegen der Filme kamen. Aber die Jugend des Ortes tanzte später auch zu den Klängen der Sexpistols, der Dead Kennedys und unserem Bildermix und fiel mit steigendem Vodkapegel auch gern mal in die Technik.
In Minsk mussten unsere Gastgeber wieder improvisieren. Der Bunker aus dem Kalten Krieg, der von ihnen als Veranstaltungsort und Filmkulisse monatelang genutzt wurde, ist vom KGB zugeschweißt worden. Es ging dann in eine Kunsthochschule, wo sich man sich hochkonzentriert an dem Filmzerstörungsworkshop beteiligte. In der Galerie “Y”, einer der angesagtesten Kunstgalerien der Hauptstadt, drängte sich das Publikum bei den Kurzfilmen. Eine Sängerin und ein Gitarrist machten sich dort an die Livevertonung eines unserer Kurzfilme.
In einem Klassenraum einer anderen Hochschule veranstalten wir ein weiteres Kurzfilmprogramm. In dem Raum mit Schulatmosphäre wollte das Publikum noch einen Menge von den deutschen Gästen wissen. Bei der Unzufriedenheit mit der Rolle des Fernsehens war man sich schnell einig, die scheint sich auch in so unterschiedlichen Systemen nur wenig zu unterscheiden.
Unsere Gastgeber vom Filmclub Minsk erklärten uns die Schwierigkeiten, in dem Land solche Veranstaltungen zu organisieren. Der Staat will alles wissen und entscheidet, was laufen kann und was nicht. In dem Filmclub in Rechitsa, in der radioaktiv belasteten Region in der Nähe von Tschernobyl, hatte man da wohl Probleme mit den Behörden. Man begleitete uns aus Minsk dorthin. Da die Obrigkeit sagte, man müsse sich vor Ausländern aus dem Westen und insbesondere vor Deutschen hüten, entschied man, es weniger öffentlich durchzuführen. Der Onkel eines Filmclubaktivisten stellte seine Privatwohnung für eine Veranstaltung zur Verfügung. Ein Bettlaken wurde vor die geschlossen Vorhänge des Fensters gespannt. Die Veranstalter blieben recht angespannt, man fürchtete den Besuch der Polizei.
Aber auch ohne Klingeln der Behörde, verlief der Abend nicht ohne Konflikte. Wir fragten, ob es Interesse an dem Film “Judas & Jesus” gebe, auch wenn dieser religiöse Gefühle verletzen kann. Wir erzählten, dass dieser öffentlich geförderte und professionell produzierte Animationsfilm der Film mit der weltweit höchsten illegalen Downloadzahl für einen Kurzfilm sei. Ja, den wollte man sehen. Aber ein Pärchen, das man in unseren Breiten wohl für Hippies halten würde, fühlte sich ordentlich auf den Schlips getreten und man verglich uns mit den Leuten, die die Mohamed-Karikaturen veröffentlichten. Die Diskussion wurde laut, und man wollte auch nichts davon hören, dass das Publikum in Grodno keine Probleme mit dem Film hatte. “In Grodno sind es ja auch alles Anarchisten!” entgegnete man uns. Aber uns gelang es dann noch, die Wogen zu glätten und andere, die selbst religiös waren, fanden den Film zwar provokant, aber wirklich gut. Es endete doch noch im Guten und man würde sich freuen, wenn wir eines Tages wieder mit Filmen aus Deutschland kommen könnten.
Unsere Tournee endete mit einer Show in der Leninbibliothek von Gomel, ein historischer Saal mit Stuck, roten Plüschvorhängen und Parolen der Partei in güldenen kyrillischen Buchstaben. Es wurde eine schöne Abschlussveranstaltung. Als das diskussionsfreudige Publikum uns noch sagte, wie inspirierend solch ein Programm sei, denn solche Filme bekämen sie praktisch nie zu sehen, wurde es ein wehmütiger Abschied. Wir müssen nun nach Wegen suchen, damit dies nicht unser letzter Besuch in der Region war. Man versuchte, uns auch mit Kontakten zu ähnlichen Filmclubs in die Ukraine zu locken. Wir müssen also abwarten, ob sich Möglichkeiten auftun, dieses Abenteuer fortzusetzen.
Derweil bekamen wir bereits Gegenbesuch aus Polen und wir präsentierten die Indiependentfilme aus Podlachien im Kieler Werftparktheater, in der Internationalen Uni Eckernförde und dem Polnischen Theater Kiel. (Karsten Weber, Filmgruppe Chaos)