60. Internationale Filmfestspiele Berlin: Panorama
Hamlet im Assessment Center
„Barriere“ (Andreas Kleinert, Deutschland 2010)
Das waren noch Zeiten, als Andres Veiels Dokumentation „Die Spielwütigen“ über vier Schauspiel-Studierende 2004 im Berlinale-Panorama lief und schließlich den Publikumspreis gewann. Eine junge Schauspieler-Crew steht auch im Mittelpunkt von Kleinerts Spielfilm im diesjährigen Panorama, und aufgeführt werden soll der Inbegriff des Schauspiels schlechthin: William Shakespeares „Hamlet“.
Neun junge Mimen nehmen in der sächsischen Provinz an einem Casting für eine Freilichtbühnenaufführung teil. Gesucht werden die Darsteller des Hamlet, des Horatio und der Ophelia. Regisseur Hans Meinhold (urig-liebenswert-eitel dargestellt von Matthias Habich) hat zu einem Gruppen-Casting geladen, das zunächst im Kulturhaus der Kleinstadt, später in der Freilichtruine außerhalb des Ortes stattfindet. Mal fasziniert, mal selbstzufrieden, mal ungnädig lässt er die Kandidaten ihre akribisch auswendig gelernten Szenen sprechen: den jungen Familienvater Daniel, der nach dem Ende seiner Vorabend-Soap eine neue Einkommensquelle braucht, die geheimnisvolle Sarah, den Schwerenöter Ben, die aus St. Petersburg gebürtige Isabell, den völlig für „Hamlet“entflammten Sven, den Ex-Stuntman Robert, die gegen Nüsse allergische Zicke Teresa, den mit einer betuchten Schauspieler-Mutter gesegneten Henning und Anne, alleinerziehende Mutter eines kleinen Sohnes. Sie alle wohnen auch noch im selben abgeschabten Hotel, feiern schon bald rauschende Feste miteinander, fangen Affären an, intrigieren und schwanken zwischen Verzweiflung und Selbstüberschätzung. Auch den jungen Timo, Filmvorführer und Hilfs-Hausmeister im Kulturhaus des Ortes, fasziniert die Welt der Bühne, ganz zum Unverständnis seiner Eltern. Zwar sind viele Einwohner der Kleinstadt, wie z.B. die Hotelchefin und Herrn Meinholds Vermieterin, äußerst kunstsinnig, aber längst nicht alle schätzen die Gesellschaft der Schauspieltruppe. Diese wiederum spielt unablässig unter Meinholds strengem Blick die weltbekannten Mono- und Dialoge, und nur drei von neun werden das Rennen machen können.
Arbeiten an der Hürde „Hamlet“: Schauspielschüler beim Casting in „Barriere“ (Foto: Berlinale)
Kleinerts in athmosphärischem Schwarz-Weiß gedrehtes Werk ist zugleich der Abschlussfilm der Schauspiel-Absolventenklasse 2009 der Potsdam-Babelsberger Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“. Der Regisseur unterrichtet dort seit 2006 als Professor für Spielfilmregie. Von Regie-Profi Kleinert stammen u.a. Werke wie „Wege in die Nacht“ (1998), „Klemperer – Ein Leben in Deutschland“ (1999), „Kelly Bastian – Geschichte einer Hoffnung“ (2001), das preisgekrönte Drama „Mein Vater“ (2002) mit Götz George, Klaus J. Behrendt und Ulrike Krumbiegel sowie zahlreiche Folgen von Polizeiruf 110 und Schimanski. Bei „Barriere“ hat Kleinert jedoch nicht nur Regie geführt, sondern auch das Drehbuch geschrieben, aus dem zweifellos viel Liebe zur Schauspielkunst und eine tiefe Kenntnis des Milieus spricht, das zum Ende hin aber einen ausgesprochen plumpen Knalleffekt vorgesehen hat. Ehrensache, dass man die abschließende Wendung an dieser Stelle natürlich nicht verraten darf. Ich fand sie jedenfalls enttäuschend, viel zu simpel und in ihrer Aussage zweifelhaft. Hätte der Autor nur dem „Hamlet“-Zitat: „Nur reden will ich Dolche, keine brauchen!“ Folge geleistet.
Die Barriere des Castings wird jedenfalls wie vorgesehen durch drei Kandidaten überwunden, und auch hier zeigt sich: Jeder ist ersetzbar – vielleicht gerade, weil jeder einzigartig ist. (gls)
„Barriere“, Deutschland 2010, 96 Min., HDCAM, Buch, Regie: Andreas Kleinert, Kamera: Jakob Seemann, Schnitt: Till Ufer, Ton: Ginetta Fassio, Darsteller: Matthias Habich, Paul Preuss, Klara Manzel, Volkram Zschiesche, Julia Gorr, Nora Rim Abdel-Maksoud, jessica Richter, Christoph Humnig, Matthias Ransberger, Jan Dose, Moses Leo u.a.