60. Internationale Filmfestspiele Berlin: Perspektive Deutsches Kino
Überleben mit der Sucht
“Portraits deutscher Alkoholiker” (Carolin Schmitz, D 2010)
“Ich bin als Referendar und Strafverteidiger hoch alkoholisiert aufgetreten, ohne dass es jemand gemerkt hat; jedenfalls bin ich nicht darauf angesprochen worden”, gesteht Herr K. in einem Interview, das er Carolin Schmitz für ihren Dokumentarfilm “Portraits deutscher Alkoholiker” gab. Wie Herr K. versuchen wahrscheinlich die meisten Alkoholiker, ihre Sucht in ein normales Arbeits- und Familienleben zu integrieren. Dabei entwickeln sie erstaunliche Strategien, um ihre Sucht zu verbergen, aber vor allem, um weiterhin in unserer Gesellschaft funktionieren zu können.
Carolin Schmitz interviewte für ihren Film eine Handvoll alkoholkranker Frauen und Männer, die in erstaunlich freimütigen Interviews detailliert ihre Lebens- und Krankheitsgeschichte schildern. Eine Mutter von zwei Kindern bekommt ihre Sucht kurzzeitig in den Griff, weil der Ehemann mit Trennung droht. Der Entzug klappt, doch schon in der Schwangerschaft mit dem dritten Kind fängt sie wieder an zu trinken, und das Versteckspiel beginnt von neuem. Ein Jurastudent säuft sich erfolgreich durch das erste Staatsexamen und das Referendariat. Erst als Volljurist bekommt er den Alkoholismus mit Hilfe einer Psychologin und Medikamenten in den Griff. Eine Erbschaft befreit einen anderen Alkoholiker von allen finanziellen Sorgen. Rational überlegt er, dass er eigentlich keinen Grund hat zu trinken und schließt daraus messerscharf, dass er kein Alkoholiker ist. Ein erfolgreicher Industriemanager ahnt, dass seine engsten Mitarbeiter von seiner Sucht wissen, ihn aber weiter unterstützen.
Caroline Schmitz ist nicht auf der Suche nach den Ursachen für die Alkoholsucht, “ein Grund für das Trinken findet sich immer”, so einer ihrer Protagonisten. Eine moralische Wertung oder Warnung liegt ihr ebenfalls fern. Ihre Dokumentation macht deutlich, dass Alkoholiker meist keine Weltflucht betreiben, sonder trinken, um weiter funktionieren zu können. Visuell unterstreicht der Film dies durch eine Trennung der Bild- und Tonebene. Während die Interviews konsequent aus dem Off gesprochen werden, zeigen langsame Kamerafahrten exemplarisch Lebens- und Arbeitswelten der Protagonisten: Das Einfamilienhaus mit Garten, Wohnzimmer, Kinderzimmer. Die Universität, das Krankenhaus, Möbelmesse und Büro. Alkoholismus ist keine Krankheit Ausgegrenzter, sie ist nicht offensichtlich und findet in der Normalität statt.
Die Sucht ist nicht offensichtlich und findet in der Normalität statt – Einstellung aus “Portraits deutscher Alkoholiker” (Foto: Berlinale)
Die Entkopplung von Bild und Ton funktioniert als Konzept auf mehreren Ebenen: Es wird deutlich, wie perfide diese Krankheit ist, weil sie für Familie, Freunde und Kollegen unsichtbar bleiben kann und Hilfe deshalb oft erst spät oder nur aus eigener Kraft erfolgen kann. Der Verzicht auf “Talking Heads” verhindert aber auch einen unfreiwilligen Voyeurismus des Zuschauers und bietet den Portraitierten den gebotenen Schutz durch Anonymität. Schlussendlich konnte Schmitz aber wohl auch dank dieses formalen Ansatzes ein beeindruckendes Vertrauensverhältnis aufbauen. Das ist für einen Dokumentarfilm entscheidend und macht “Portraits deutscher Alkoholiker” besonders wertvoll. (dakro)
“Portraits deutscher Alkoholiker”, Deutschland 2010, 79 Min., 35mm, Buch, Regie, Kamera: Carolin Schmitz, Steadicam: Olaf Hirschberg, Schnitt: Marc Stoppenbach.