60. Internationale Filmfestspiele Berlin: Forum
Schauen auf das Unsagbare
„Orly“ (Angela Schanelec, Deutschland, Frankreich 2010)
Angela Schanelecs Filme gelten als sehr kontrolliert. Oder jedenfalls als formal sehr streng. Lange, komponierte Einstellungen treffen dort auf theaterhaft vorgetragene Dialoge. Wenn man nun „Orly“ sieht, möchte man an all den Diagnosen zweifeln. Man möchte unmittelbar auf Entdeckungsreise gehen und all die Freiheit und Großzügigkeit entdecken, die „Orly“ nun so reichlich verschenkt.
Drei Geschichten, Situationen eigentlich nur, verfolgt die Kamera auf dem Pariser Flughafen Orly. Ein Musikproduzent auf dem Weg nach San Francisco trifft auf eine gescheiterte Restaurantbesitzerin, die zu ihrem Mann nach Montreal unterwegs ist. Eine Mutter sieht sich mit der Realität konfrontiert, dass ihr Sohn ein sexuelles Wesen ist, und ein deutsches Teenager-Paar auf Rucksackurlaub sieht die Gemeinsamkeiten wackeln. Jede einzelne Situation nachzuerzählen, würde bedeuten, ihren Zauber zu verfehlen. Aber worin besteht dieser Zauber? Vielleicht kann man sich ihm über die Produktionsprämisse nähern. Der Film ist während des laufenden Flughafenbetriebes gedreht. Mit langen Brennweiten pickt sich die Kamera die Figuren aus der echten Szenerie heraus, was einen umwerfenden Effekt hat. Die Bilder sind von einer bestechenden Präzision und Transparenz und gleichzeitig erlauben sie eine flirrende Atmosphäre des Zufalls, der Gegenwärtigkeit. Das ist fast die Quadratur des Kreises. Formale Strenge und größtmögliche Freiheit.
Figuren aus dem Realen gepickt: Schicksale auf dem Flughafen „Orly“ (Foto: Reinhold Vorschneider)
Diese Freiheit besteht auch in Hinblick auf die Figuren. Denkt man zunächst noch, die erste Begenung laufe auf eine – vielleicht flüchtige – Affäre hinaus, so bekommt man diesen Zahn schnell gezogen. Beziehungsweise den Nerv beruhigt, denn die sexuelle Attraktion ist nur eine unter vielen Ebenen, auf denen die beiden sich begegnen. Vor allem ist es die Haltung zum Leben, die Gewissheit, irgendwie agieren und sich entscheiden zu müssen, und gleichzeitig die Ungewissheit, welches denn der richtige Weg sei. Vielleicht ist man ja auch schon auf dem falschen. „Will Tear Us Apart“ liest man am Anfang und ergänzt sofort das fehlende „Love“. Und natürlich spielt die Liebe immer mit hinein in die gezeigten Situationen, und hinreichend fragil ist sie auch und besitzt Zerstörungspotenzial. Aber vielmehr stellt sich die Frage: Warum fehlt das Wort „Liebe“?. Fehlt im Leben die Liebe an sich? Oder ist es vielmehr so, dass wir nur glauben, die Liebe reiße uns entzwei. In Wirklichkeit ist es etwas Anderes, Unsagbares. Nur was?
Das Unsagbare – wieso findet der eine etwas komisch, der andere nicht -, der Zufall – die Urlaubsreise dauert schon genauso lange wie das Leben eines Babys -, die Frage nach dem Wohin: Das alles sind Themen, die mit leichter Hand mitverhandelt werden. Die Metaphorik ist zwar nicht neu, aber immer gültig: das Leben ist eine Reise. Der Flughafen ist dabei so etwas wie ein heiterer Turm zu Babel. Hier treffen verschiedenste Menschen in einem Wirrwarr aufeinander, das sich nicht nur auf Sprache, sondern auf das Verständnis von Signalen und Zeichen ganz allgemein erstreckt. Wenn die Menschen ihrem Ziel aber zu nahe zu kommen drohen, streicht Gott einfach die Flüge. (Sven Sonne)
„Orly“, Deutschland, Frankreich 2010, 84 Min., 35mm Cinemascope, Buch, Regie: Angela Schanelec, Kamera: Reinhold Vorschneider, Ton: Andreas Mücke-Niesytka, Schnitt: Mathilde Bonnefoy, Darsteller: Natacha Régnier, Bruno Todeschini, Mireille Perrier, Emile Berling, Jirka Zett, Lina Phyllis Falkner, Maren Eggert (Sabine), Josse de Pauw.