Lebensgeschichten einer Kleinstadt

„Ecke 1 – Auf Schatzsuche nach Geschichten“ (Martina Binder, Simone Kobarg, Holger Bopp, D 2009)

Günther, Jahrgang 1929, Sohn aus einer Eckernförder Fischerfamilie, erzählt vom harten Erwerbsleben in der Seefischerei. Mit 19 Jahren fuhr er bereits als selbständiger Kutterkapitän in der Nordsee und vor dem Kattegat zur See. Sein Seemannsleben war kein Zuckerschlecken, doch im Rückblick kann er selbst den unschönen Seefahrer-Abenteuern ein wenig absurde Komik abgewinnen. Die Schülerin Kendra berichtet von ihren Eindrücken aus den USA, wo sie 2007 und 2008 ein Austauschjahr verbrachte. Die amerikanische Gastfamilie konnte den Erzählungen von ihrer schleswig-holsteinischen Heimat kaum glauben, zu unterschiedlich sind die Lebensweisen im Mittleren Westen der USA und an der Ostseeküste. Nach der langen Abwesenheit und der Rückkehr in die vertraute Umgebung von Eckernförde hat sich Kendras Sinn für die Heimat geschärft. Peter hatte es mit 18 „endlich geschafft“, von zu Hause wegzukommen, und strandete letztendlich mit seine Schweizer Frau in Eckernförde. Er erzählt von dem liebevollen Verhältnis zu seinem Vormieter, dem stadtbekannten blinden Pianisten „Schmuggel-Peter“. Nach dessen Tod übernahm Peter dessen Haus und richtete seine Galerie ein.
Auf der Suche nach Geschichten in Eckernförder Wohnzimmern …
Diesen Dreien und den vielen anderen Protagonisten in dem Dokumentarfilm „Ecke 1 – Auf Schatzsuche nach Geschichten“ ist Eckernförde gemeinsame Heimat. Martina Binder, Holger Bopp und Simone Kobarg haben die Kleinstadt an der schleswig-holsteinischen Ostseeküste mit ihren 24.000 Einwohnern bewusst für ihr Dokumentarfilmprojekt ausgewählt. Eckernförde steht für die unzähligen Städte mit weniger als 50.000 Einwohnern, in denen gut 60% der Deutschen leben und arbeiten. Ohne Vorgaben für das Thema ihrer Interviews fangen die drei jungen Filmemacher Lebensläufe, zwischenmenschliche Begegnungen und Anekdoten mit losem Bezug zu Eckernförde ein. Ziel des Projektes ist, durch ein „Netzwerk aus Geschichten“ die Stadt als Organismus greifbar zu machen, der durch seine Bewohner, ihre Vitae und Beziehungen untereinander lebendig wird. Geschichten zu erzählen und Geschichten anzuhören, mithin zu kommunizieren, ist für das gute Funktionieren einer Gemeinschaft unabdingbar. Dies will das Projekt „Ecke 1“ nicht nur verdeutlichen, sondern auch Hilfestellung leisten, damit der kommunikative Austausch nicht nur in fest gefügten homogenen Gruppen verläuft, sondern die Grenzen von sozialem Status, Alter oder ethnischer Zugehörigkeit überwindet. Ein ehrgeiziges Anliegen.
Geschickt wählen Binder, Kobarg und Bopp nicht nur den Dokumentarfilm als Medium, sondern auch das Internet als Plattform. Als Dokumentarfilm allein und ohne jede begleitende Erläuterung würde „Ecke 1 – Auf Schatzsuche nach Geschichten“ nicht funktionieren. Zu vage blieben die Schlüsse, die man aus der Aneinanderreihungen der einzelnen Geschichten ziehen könnte. Zu belanglos nähme sich manche Anekdote aus. Und zu wenig repräsentativ für die gesamte Bevölkerung einer Stadt wären ein Dutzend erzählter Geschichten. Im Internet unter www.ecke-1.de jedoch kann der Schatz an Geschichten unbegrenzt wachsen und ist zeitlich nicht limitiert. Der Betrachter kann sich selbst seinen Weg durch die Wohnzimmer der Stadt suchen. Formal haben die Filmemacher das Internet als eigentlichen Schauplatz ihrer Portraits bereits berücksichtigt. Mit statischen Bildern und Großaufnahmen setzen sie ihre Protagonisten auch auf dem kleinen Bildschirm klar in Szene. Interessant wäre noch, die Verknüpfungen der Erzähler untereinander, sofern vorhanden, zu dokumentieren. „Ecke 1“ ist in seiner Konzeption ein höchst interessantes Experiment, den drei Filmemachern ist der Enthusiasmus für viele weitere Interviews zu wünschen. (dakro)
„Ecke 1 – Auf Schatzsuche nach Geschichten“, D 2009, 67 Min., DV und Internet. Regie: Martina Binder, Holger Bopp, Simone Kobarg, Moderation: Holger Bopp, Kamera und Schnitt: Martina Binder, Simone Kobarg, Produktion: Martina Binder
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