Uwe all inclusive
„Uwe geht zu Fuß“ (D 2009, Florian von Westerholt)
„Er ist ein Stück von Heikendorf, einfach eine Institution“, „ein Urgestein“, „einer von uns“ – das sagen Einwohner des Ostseebades an der Kieler Förde über Uwe Pelzel, Jahrgang 1943, und nur insofern „normal unnormal“, als „uns Uwe“ mit dem Down-Syndrom geboren wurde und damit bereits weit länger lebt, als ihm die statistische Lebenserwartung eines Menschen mit Down-Syndrom prognostiziert. Florian von Westerholt porträtiert in seinem Dokumentarfilm „Uwe geht zu Fuß“ den Heikendorfer „Hans Dampf in allen Gassen“ als mustergültiges Beispiel für Inklusion – für das gemeinschaftliche Leben mit Behinderten, ein Ziel aktueller Politik für Menschen mit Handicap.
Was Inklusion bedeutet, erläutert als Interviewpartner im Film der Sonderpädagoge Dr. Dr. h.c. Rüdiger Walburg: Integration bezeichne, dass jemand aufgrund seiner Eigenheiten aus der Gesellschaft ausgeschlossen war und nunmehr wieder in sie zurückgeführt werden solle. Inklusion dagegen stehe für das natürliche Leben eines Menschen, der anders ist, inmitten seiner „normalen“ Mitmenschen. Während die Sozialpolitik diesen neuen Umgang mit behinderten – politisch korrekter ist die Bezeichnung „andersartigen“ – Menschen gerade erst einübt, scheint er in der 9.000-Seelen-Gemeinde Heikendorf schon seit Jahrzehnten gleichsam „natürlich“ gelebt. Uwe Pelzel ist voll integriert – genauer: inkludiert – in das Gemeindeleben, ist als langjähriges Mitglied in allen Vereinen von der Knochenbruchgilde bis zum Heikendorfer Sportverein, als dessen Chefbetreuer er schon manches Fußballspiel in der Kreisliga begleitete, ein unverzichtbarer Exponent der Gemeinde. Über ihn kann man nur Gutes sagen.
Und genau das ist das Problem, das sich aller Inklusion und damit auch dem Film stellt. Uwe Pelzel erscheint als Musterknabe und Musterbürger, kaum als Person. So sehr, dass kein Interviewter, der etwas über Uwe zu vermelden hat, die Worte „Behinderung“ oder „Down-Syndrom“ überhaupt in den Mund zu nehmen wagt. Da stellt sich die Frage, ob die Heikendorfer ihr „Urgestein“ nur deshalb so lieben, weil es ihnen auf so andere Weise gleicht. Was ja nicht verkehrt wäre, aber das Porträt Uwes immer wieder in gefährliche Fahrwasser führt.
Eigensinnig inkludiert: Uwe Pelzel
Freilich ist das eine Grundproblematik des Porträts eines Menschen, der vor einem Mikro ratlos sitzt, der zu allen Anekdotenerzählungen über sein Leben seitens der nicht „behinderten“ Interviewten und Mitmenschen meistens einfach nur „Ja“ sagt – oder den Kopf schüttelt. Florian von Westerholt stellt diese Problematik nicht dar, aber lässt sie vielsagend vor der Kamera geschehen und gibt ihr dadurch dennoch Raum. Uwe Pelzel übt sozusagen eigensinnigen Widerstand gegen seine Porträtierung und Ausstellung als Beispiel für eine zeitgeistgemäße Behindertenpolitik. Sein Kopfschütteln über manche Zuweisung spricht Bände. Wobei: Pfropfen wir als Beobachter dem Beobachteten dabei nicht schon wieder etwas auf, von dem wir nur glauben, dass es ihm gemäß wäre?
Westerholt liefert die Gegenbilder mit, die in Uwes Kopf, Herz und Bauch vielleicht dagegen existieren, als „ganz normaler Unnormaler – es wäre ja schrecklich, wenn wir alle gleich wären“ eingemeindet zu werden. Uwe als flotter Eintänzer auf dem Schützenfest – das zeigt auch fröhlichen Widerstand und Eigensinn. Ebenso, wenn Uwe die Fußballer nach seiner ureigenen Pfeife tanzen lässt. Ist Inklusion auch Widerstand des Inkludierten gegen seine „all inclusive“-Eingemeindung? Muss alles „Andersartige“ assimiliert werden?
Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Welches Urteil dürfen wir uns über Uwe erlauben? Welches Urteil überhaupt über einen Menschen mitten unter uns? Der Film fragt das im Subtext, an mancher Stelle zu sehr unter der Oberfläche der Interviews, in denen die Heikendorfer erzählen, wie toll Uwe ist und in ihr Dorf passt und dabei vor allem sich und ihre Lebensart feiern. Inklusion hin oder her, manchmal erscheint hier mehr der Wunsch als der Vater des humanen Gedankens – und Uwe grinst und meckert frech und schnippisch gegenan.
Vorsicht ist jedoch auch gegenüber solcher Interpretation geboten: Womöglich zeigt diese ja nur unseren Vorbehalt, unsere Urängste dem gegenüber, einen Menschen als einen der unseren anzuerkennen, der so unmittelbar anders wie Uwe Pelzel im Leben steht. Furcht vor unserem eigenen Anderssein? Uwe führt uns „all inclusive“ vor, und so ist Westerholts Film nicht nur ein liebevolles Porträt eines „Andersartigen“, sondern auch dessen, in unserer „Heimat“, die hier Heikendorf heißt, uns im Anderen wiederzufinden, in einem Anderen, der womöglich mehr „Ich“ ist, als wir uns selber zugestehen. Inklusion fängt eben ganz von unten an, im mitmenschlichen und damit eigenen Herzen. (jm)
„Uwe geht zu Fuß“, D 2009, 78 Min., HD, Buch, Regie, Kamera, Schnitt: Florian von Westerholt. Gefördert von der Filmwerkstatt Kiel der Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein.