13. Filmfest Schleswig-Holstein Augenweide

Zwischen Poesie und Pointen

„kurz & knackig“ – die Augenweide-Kurzfilmnacht

Die kurze Form des Filmemachens neigt gleichsam von Natur aus zum poetischen Entwurf – und/oder zum pointierten Erzählen. Das zeigte unter dem treffenden Motto „kurz & knackig“ auch die Kurzfilmnacht der diesjährigen Augenweide.
Dass Poesie auch Komik meinen kann, bewies „the red carpet“ (D 2007, 4’35 Min., Jörg Hommer) als kurzer Opener des Filmfests bereits am Freitag vor der Kurzfilmnacht. Jörg Hommer richtete dabei seine Kamera auf den roten Teppich des G8-Gipfels in Heiligendamm im Sommer 2007. In Kniehöhe, denn die Politiker von Bush bis Sarkozy, die den Teppich des strengen Protokolls zur Begrüßung durch die Gastgeberin, Bundeskanzlerin Merkel, abschreiten, sind höchstens an ihrem Gang zu erkennen. Oberkörper und Gesicht kommen bei dieser sozusagen „anti-amerikanischen“ Einstellung nicht in den Blick. Die unfreiwillige Komik dieses Rituals wird so erkennbar, nicht zuletzt auch durch die Tonspur, auf der die Kameras der Presse klacken und plappern. Eine feine Ironie, dass der rote Teppich in Form eines Kreuzes angeordnet ist. Ebenso der versteckte Hinweis auf eine Anekdote aus der Zeit vor der Wiedervereinigung, die Deutschland erneut zur (Möchtegern-) Großmacht machte: nämlich dass die DDR-Bürger seinerzeit ihre Brüder und Schwestern aus dem Westen an den Schuhen erkannten. Krönender Abschluss, dass am Ende ein Protokollbeamter, der den Teppich fegt, als einziger mit nicht abgeschnittenem Oberkörper ins Bild kommt – denn die im Dunkeln sieht man hier doch …
Um verblasene Rituale geht es auch in Tobi Degenhardts „Tischgesellschaft“ (D 2007, 3’15 Min.), dem einzigen Animationsfilm im Kurzfilmprogramm der Augenweide. Degenhardt setzt die so genannte bessere Gesellschaft flash-animiert an einen Dinner-Tisch und lässt sie in bester Loriotscher Manier Dünnsinn palavern. Das könnte einer dieser langweiligen Abende der vom eigenen sozialen Status Gelangweilten von der „Frau Baronin“ bis zum „Herrn Konsul“ werden, schlüge der Oberstudienrat nicht trunken über die Stränge des artigen Protokolls und forderte ein weiterer Gast nicht so vehement das Dessert: „Bum-Bum-Eis mit Kaugummi-Sti(e)l“. Ein köstliches Kurzfilm-Parfait, das vor allem von Degenhardts Poetry-Slam-erprobtem Wortwitz lebt.
Apropos Tischgesellschaft: Kay Ottos Musik-Video „Kettcar – Am Tisch“ (D 2008, 4’02 Min.) setzt den Kettcar-Sänger und -Poeten Marcus Wiebusch an den Tisch einer 70er-gestylten „Besserverdienerwohnung“ (Otto über das Set). Kettcars Song beklagt das Ankommen im (bürgerlichen) Leben und damit das Ende der aufrührerischen Jugend. Markiert durch unterschiedliche Farbdesigns (Kamera: Torben Sachert) – kalt versus warm – werden Außen- und Innensicht des (an-) klagenden Poeten deutlich: brav Parlierender am Tisch (Rottöne), dagegen die distanzierte, kalte Innensicht auf das äußere Geschehen des gesetzten abendlichen Beisammenseins in „My Home is my Castle“ (Blautöne). Gegen den aufgesetzten Frieden, den die Yuppie-Jugend mit sich selbst und den Retro-Verhältnissen gemacht hat, hilft nur die Fantasie einer kathartischen Katastrophe, die am Ende die Tischgesellschaft auflöst.
So einen poetischen Angang versucht auch Maria Reinhardt. Dass ihre Kurzfilme aber leider immer nur auf eine komische Pointe hinauslaufen, zeigt auch ihr neuestes Musik-Video „Feelings Explode“ (D 2008, 4’45 Min.) zu einem Song ihrer eigenen Band Knott. Die Protagonistin/Sängerin (auch von Reinhardt gespielt) hat ihren Lover zum Fressen gern, welches Sprichwort sie wörtlich nimmt: der Lover wird mit allerlei splatterndem Blut einer zugegebenermaßen avancierten Maskenbildnerei buchstäblich aufgefressen. Eine nette Idee, filmbildnerisch im MTV-Stil auch gut umgesetzt (Kamera wiederum: Torben Sachert), aber eben auch nicht mehr. Wiedermal leidet ein Film der quirligen und durchaus begabten Kielerin daran, dass sie zu viel auf einmal will und macht. Buch, Regie, Darstellerin, Sängerin der eigenen Band – das ist einfach zu viel des Engagierten und auch der Selbstinszenierung.
Auf den ersten Blick ähnlich brachial, auf den zweiten aber um einiges feinsinniger ist die Pointe in „Disziplin“ (D 2008, 2’37 Min., Jacob Hendriks). In einer Bibliothek darf man nur flüstern, um die Mitstudierenden nicht zu stören. Was aber, wenn ein schnatterndes Studentinnen-Duo sich eben diesen Ort konzentrierter Kontemplation für eine Party mit Prosecco und Luftballons wählt? Einer der lustigen Ballons fliegt auf eine genervte Kommilitonin zu, die ihn mit einem gezielten Stich mit der Haarnadel zum Platzen bringt – und damit auch den Kopf der munteren Lärmerin. Hendriks Splatter-Pointe wirkt selbstironisch und ist damit über den bloßen Knalleffekt erhaben. Filmisch zugespitzt zudem, indem Hendriks das (nur vermeintliche) Plädoyer für Disziplin in einem One-Take ohne Schnitte inszeniert.
Im Schwebezustand zwischen poetischem und pointierten Erzählen ist Michael Carstens’ „Kurz vor Wort“ (D 2008, 3’59 Min.) schon vom Titel her. Im ganzen Film wird kein Wort gesprochen, aber man wartet in zunehmender Spannung auf jene klassischen drei Worte, die sich das Liebespaar in einer bezaubernden, wenn nicht verzauberten schleswig-holsteinischen Landschaft zwischen Hainen und Wiesen jetzt eigentlich sagen müsste. Doch statt zu sprechen tanzt die junge Verliebte durch die Wiesen und verzehrt, statt sich nach dem Liebesakt zu verzehren, eine Pusteblume nach der anderen – um die filigranen Samen ungesagter, weil vielleicht gar nicht sagbarer Liebesworte 3D-animiert statt eines Kusses aus ihrem Mund zum Flug in den Himmel zu entlassen. Carstens hat diese Szene geträumt, wie er im Gespräch nach der Uraufführung erzählt. Und träumerisch zu einem filmpoetischen Minnesang verdichtet.
Poesie arbeitet gerne mit Anspielungen, Assoziationen, im filmischen Kontext sind das Filmzitate oder „found footage“. Kai Zimmer hat schon mehrfach mit vorgefundenem (Hollywood-) Material gearbeitet, es neu montiert und so neue poetische Zusammenhänge geschaffen. In „Taumel“ (D 2008, 6 Min.) hat er Szenen aus zwei Verfilmungen des Romans „The Postman always rings twice“ von James M. Cain einander kommentierend und verdichtend gegenübergestellt: Viscontis „Ossessione“ (1943) und Tay Garnetts „The Postman Always Rings Twice“ (1946) mit Lana Turner. Neorealismo trifft – in Zeit- und damit auch erzählerischer Genossenschaft – auf Film noir. Und auf Zimmers Kunst des „Zerschneidens“. Letztere schneidet genau das weg, was für die jeweilige Filmerzählung wichtig ist, und konzentriert sich auf die „standardisierten“ Shots, die eine umso eindringlichere untergründige Atmosphäre schaffen. Wiederum erweist sich Zimmer auch auf der Tonebene als sensibler Collageur, der die Soundtracks im knisternden „Vintage“-Sound überlagert, austauscht, wie die Bilder so lange miteinander vermischt, bis aus dem Material seine ursprüngliche Poesie spricht. Vielleicht der poetischste, vielleicht ob seiner hochgradig poetisierenden Montage-Dialektik aber auch der unnahbarste Kurzfilm dieser Nacht.
Würde der Kurzfilmpreis der heurigen Augenweide nach dem Grad der Poesie vergeben, wäre für „Taumel“ Philipp Hartmanns „Requiem für Frau H.“ (D 2008, 4’45 Min.) ein ernstzunehmender Konkurrent. Zwei Handwerker renovieren die Wohnung einer Verstorbenen. Zum Soundtrack der Sopran-Arie „Ihr habt nun Traurigkeit“ aus Brahms’ „Deutschem Requiem“ filmt Hartmann die Handwerker im körnigen und schwarz-weißen Super-8-Look, wie sie die Tapeten von den Wänden lösen, um darunter immer weitere vorheriger, noch länger verblichener Bewohner zu finden. Während die Tapetenfetzen auf dem Boden liegen wie gefallenes welkes Laub, wird die Geschichte eines Menschen getilgt und kommen immer neue, ältere hervor. Ein wahrlich zu manchem Tränchen im Knopfloch rührendes Bild für die Vergänglichkeit und die ewige Wiederkehr des Zyklus Leben-Tod-Leben.
Um so einen Zyklus, der den Lauf der Zeit zu einem Ewigen macht, in dem sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft begegnen, in dem „die Filmzeit aufgehoben ist“, so der Filmemacher Hannes Burchert, geht es auch in „Schneezeit“ (D 2008, 15 Min.). Ein junger Mann, ein alter Mann in der zeitlosen Einöde einer Hütte im norwegischen Dauerfrost erweisen sich als dieselben, zwei Seiten derselben Zeitmedaille. Für solche Unendlichkeit des zeitlichen Kreislaufs findet Burchert das poetische Bild eines Käfers, der zu Beginn eingefroren wird, um nach dutzenden Wintern wieder aufgetaut und quicklebendig zu werden. Tod, wo ist dein Stachel, wenn wir in unseren Vor- und Nachfahren ewig leben?
„Poetischer Film“ ist nach eigenem Bekunden auch die eigentliche Passion des seit den 60er Jahren im Mainstream- ebenso wie im Experimentalfilm tätigen und mit seinem Produktionskonzept „Drehbank“ heuer umtriebigen Filmemachers Bernd Fiedler. Sein „Film über Playbag“ „action II“ ist dem stets mit der Kamera als Notizbuch unterwegs Seienden zufällig zugefallen. Er brütete gerade über einem neuen „Drehbank“-Drehbuch, als der Wind in seinem Garten einen Plastiksack durch die Luft wirbelte. Fiedler griff zur Kamera und verfolgte den „Troll“ durch sein windiges Leben. Unter Kai Zimmers Schnitt ist daraus eine feine kleine Studie nahe dem Animationsfilm geworden. Indem Fiedler sie mit Musik von alten Schellackplatten untermalt, entsteht ein filmisches Ballett von ebenso eindringlicher wie slapstick-haft humorvoller Poesie. Fiedlers Diktum, er sei „auf der Suche nach Formen, die nur Film kann“, scheint mehr als eingelöst.
Ob man auch über den Holocaust in poetischer Form berichten darf, ohne ihn damit zu verharmlosen, ist seit Adorno ein Diskussionspunkt. Manchen Zuschauern stieß „Spielzeugland“ (D 2007, 14 Min.) des frisch gebackenen Oscar-Kurzfilmpreisträgers Jochen Alexander Freydank in dieser Hinsicht negativ auf. Zu unglaubwürdig, unhistorisch, zu „bloß poetisch glatt“ schien ihnen die Geschichte: Eine Mutter versucht, ihrem Sohn Heinrich zu verheimlichen, wohin die Familie seines jüdischen Freundes David deportiert wird. Deshalb lügt sie, David verreise ins Spielzeugland. Mit fataler Folge, denn Heinrich möchte mit ins Spielzeugland reisen und ist samt der jüdischen Nachbarsfamilie plötzlich verschwunden. In letzter Minute kann die Mutter die Nazi-Schergen überzeugen, dass David ihr Sohn Heinrich sei (der gar nicht bis zum Deportationsbahnhof vordrang) und so wenigstens ihn vor dem Genozid retten. In der Tat ist das von der Bild- und Inszenierungsästhetik her ein Film wie eine Seitenepisode von „Schindlers Liste“. Dennoch erzählt sie Freydank in Vor- und Rückblenden und zeigt somit auch die Brüche. Zudem nimmt der Film deutlich Stellung gegen die Legende, die Deutschen hätten mehrheitlich nichts von der Deportation ihrer jüdischen Nachbarn gewusst. Und warum bitte sollte man von der Singularität des Holocaust nicht gerade so erzählen – poetisch? Hier gilt einmal mehr Wittgensteins leicht, aber entscheidend abgewandelter Satz: Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man dichten – oder filmerzählen! Am Rande sei noch vermerkt, wie „Spielzeugland“ ins Augenweide-Kurzfilmprogramm geriet: Nicht wegen des Oscars, sondern wegen des schleswig-holsteinischen Kameramanns Christoph Nicolaisen.
Unter den Verdikten richtig oder falsch verstandener „political correctness“ leiden Filme über die gegenwärtigen Opfer inhumaner Verhältnisse noch nicht. Mit „Was übrig bleibt“ (D 2008, 13 Min.) legen Fabian Daub und Andreas Gräfenstein sowohl den einzigen dokumentarischen wie auch den einzigen „politischen“ Film (von „Spielzeugland“ mal abgesehen) des Augenweide-Kurzfilmprogramms vor. Die Filmemacher zeigen das „Prekariat“ aus dem ehemals niederschlesischen, jetzt polnischen Kohlerevier um die Bergbaustadt Waldenburg, die in seit langem stillgelegten Schächten „Restkohle“ abbauen, um sie illegal zu verkaufen.
Übriggebliebene Menschen als Verwerter dessen, „was übrig bleibt“, wenn die globalisierten „Heuschrecken“ abgezogen sind, um sich irgendetwas weit unter dem Existenzminimum zu erwirtschaften. Der aktuellste Film des Programms, wohl auch der unpoetischste. Denn der pure Kampf ums Dasein kann sich Poesie kaum leisten. Oder wie Brecht wusste: „Erst kommt das Fressen“ … dann die Poesie. (jm)

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