57. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2007

Von verbohrten Männern und selbstbewussten Frauen

Ein Rückblick auf den Wettbewerb der 57. Filmfestspiele Berlin

57. Internationale Berliner Filmfestspiele: das Publikumsfestival par excellence. Mit rund 200.000 verkauften Eintrittskarten und über 15.000 akkreditierten Fachbesuchern und Journalisten aus aller Welt kann sich Berlin in dieser Hinsicht im Konzert der großen drei Festivals in Europa (zusammen mit Cannes und Venedig) wieder einmal sehen lassen. Sieht man hingegen das Niveau des Wettbewerbprogramms, so stellt sich die Sache schon ganz anders dar. Es gab ein paar sehr sehenswerte Filme, aber im Großen und Ganzen dominierte doch eher das Mittelmaß.

Jedes Jahr hegen vor allem die deutschen und ganz besonders die Berliner Zeitungen die Befürchtung, zu wenig Starrummel und Glamour könnte die winterliche Festivalzeit trüben. Doch diese Furcht war dieses Jahr unbegründet. Denn es gab einen Star-Auftrieb wie schon lange nicht mehr. Robert De Niro, Clint Eastwood, Cate Blanchet, Sharon Stone, Lauren Bacall, Richard Gere, Matt Damon, Willem Dafoe und so weiter und sofort. Bezeichnend, dass einem bei solchen Gelegenheiten zumeist amerikanische Filmgrößen als erstes einfallen und nicht europäische oder deutsche, die natürlich auch zu Hauf da waren. So waren denn auch zwei der auffälligsten Filme im Wettbewerbsprogramm US-amerikanischer Herkunft. Robert De Niros dreistündiger Film über die Gründerzeit der CIA „Der gute Hirte“ und Clint Eastwoods Zweiter-Weltkriegs-Drama aus japanischer Sicht „Letters from Iwo Jima“.

De Niro bezeichnete sich auf der Pressekonferenz zu seinem Film als Kind des Kalten Krieges. Mit dieser Erklärung schien es folgerichtig, dass er nun an diesem ehemaligen Brennpunkt zwischen Ost und West diese eindringliche Studie über die Machenschaften der CIA präsentierte. Matt Damon gibt in „Der gute Hirte“ einen Geheimagenten der Gründergeneration des CIA. Dieser farblose Mann ist freilich kein Geheimagent à la James Bond sondern ein unauffälliger Beamter, der morgens früh wie ein unscheinbarer Bürokrat in Angestelltentracht mit der obligatorischen Aktentasche unter dem Arm im Bus ins CIA-Büro fährt. So mittelmäßig grau er in seiner Erscheinung ist, so unnachgiebig dient er seinem Geheimdienst, was auch immer dieser von ihm verlangen mag. Schon bald ist er zu keinem Gefühl mehr fähig. Schmutzige Geheimdienstroutine scheint jegliche Menschlichkeit zu ersticken. Seine Privatsphäre gilt ihm nichts, wenn es in entscheidenden Momenten darum geht, zwischen banaler Agentenpflicht und Familie zu entscheiden. So ist er auch bereit, das Glück seines Sohnes blutig zu opfern, nur um seinen Job zu erledigen. Ja, bisweilen geht es um „Große Politik“ und tatsächlich um den Weltfrieden. So bei der Kubakrise Anfang der 60er Jahre. Aber oft scheinen die geheimdienstlichen Balgereien zwischen Ost und West, bei denen auch nicht vor Menschenopfern in den eigenen Reihen zurückgeschreckt wird, lächerlicher Selbstzweck mit den Ingredienzen: gnadenloses Überwachen, Foltern und Morden. Und so liest sich De Niros filmischer Kommentar zur US-Politik diesbezüglich als eine Kritik an einem pervertierten Patriotismus.

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Matt Damon: der graue Agent in „Der Gute Hirte“ (Foto: Berlinale)

Japanischer Patriotismus gepaart mit der für westliche Verhältnisse unvorstellbaren Opferbereitschaft waren die Grundcharakterzüge der meisten japanischen Kämpfer im 2. Weltkrieg, die es den Amerikanern so schwer machten, das Volk unter der Roten Sonne zu besiegen. Hinzu kam freilich die gnadenlose Hybris und Ignoranz des japanischen Kaisers und der größten Teile seiner Generalität, die es ihnen erlaubten, ihre Soldaten wie willenlose Figuren eines grausamen Spiels zu opfern. Der japanische Ehrbegriff, der es japanischen Kämpfern gebot, sich eher durch Selbstmord zu opfern als sich dem Feind zu ergeben, tat ein Übriges. Dies alles versucht Clint Eastwood in seinen Film „Letters from Iwo Jima“ einfühlsam zu zeigen. Und es gelingt das Kunststück, dass ein Amerikaner die Perspektive der japanischen Verteidiger beim Gegenschlag der Amerikaner im Pazifik des 2. Weltkriegs glaubwürdig darstellen kann. Gezeigt wird die Verteidigungsschlacht auf der den japanischen Hauptinseln vorgelagerten Insel Iwo Jima, bei der von 20.000 japanischen Soldaten, die sich unter dem Kommando ihres Generalleutnants Tadamichi Kuribayashi (Ken Watanabe) ein riesiges Höhlensystem geschaffen hatten, nur gut 100 Soldaten übrig blieben, weil die meisten sich dem Tod durch den Feind oder der amerikanischen Gefangenschaft durch Selbstmord entzogen. Eastwood versucht sich in die japanischen Lebensumstände und in die Psychologie seiner Figuren einzufühlen. Auf Grundlage der nie von der Insel abgeschickten Briefe der Belagerten, die man erst Jahrzehnte nach Kriegsende in den Höhlen entdeckte, entwirft Eastwood die Biografien seiner Hauptfiguren. Das Figurentableau reicht dabei vom General bis zum einfachen Kämpfer, das Charakterspektrum vom blindwütig Teno-treuen Fatalisten bis zum selbstständig denkenden und handelnden Patrioten, dem Zweifel an seinem Handeln nicht fremd bleiben. Eastwood schafft so einen eindrucksvollen Appell an einen Humanitätsgedanken, der auf ein versöhntes Miteinander der sich so fremden Kulturen zielt.

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Letters from Iwo Jima“: Generalleutnant Tadamachi Kuribayashi (Ken Watanbe) kämpft eine 40-tägige Verteidigungsschlacht, die nicht zu gewinnen ist. (Foto: Berlinale)

Betrachtet man die oben beschriebenen Filme, so kann man von einem Festival der tapferen, verbohrten Männer, die mit ihrem vergeblichen Tun unter sich bleiben wollen, sprechen. Um unabhängige Frauen, die selbstbewusst ihr Leben hindurch durch alle Krisen meistern, ging es in etlichen „Frauenfilmen“ dieses Wettbewerbs.

Der chinesische Film „Tuyas Ehe“ von Wang Quan’an spielt meist in den mongolischen Weiten fernab der Städte. Die Titelheldin Tuya (Yu Nan) sucht einem neuen Ehemann, nachdem ihr bisheriger Lebensgefährte aus Altersgründen zu schwach und gebrechlich für körperliche Arbeit ist und sie sich bei einem Unfall so schwer verletzt hat, dass sie ebenfalls die schwere Landarbeit nicht mehr verrichten kann. Den Bewerbern stellt sie die Bedingungen, dass der bisherige Ehemann in die neue eheliche Gemeinschaft übernommen werden muss, denn sie liebt ihren Mann und Vater zweier Kinder freilich immer noch. Und nur die wirtschaftliche Notwendigkeit, man kann auch sagen: der harte Kampf ums Überleben, zwingt sie zu einer neuen Bindung. So vermittelt „Tuyas Ehe“ dem westlichen Zuschauer soziale Exotik aus dem Fernen Osten mit ruhigem Atem und glaubwürdigen Schauspielern, die glatt aus der Gegend stammen könnten, in der die Handlung angesiedelt ist (und es z.T. wohl auch sind). Entstanden ist ein liebenswerter Film mit einer einfachen Geschichte und klaren Bildern aus der mongolischen Steppe (vom deutschen Kameramann Lutz Reitemeier), mit dem Goldenen Bären aber wohl doch etwas zu hoch bewertet.

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Yu Nan als standhafte Tuya in „Tuyas Ehe“ (Foto: Berlinale)

Hoch gehandelt wurde schon im Vorfeld der Eröffnungsfilm, das französische Bio-Pic über Edith Piaf „La Môme – La vie en rose“ von Olivier Dahan, doch wurden die Erwartungen an den Film nur zum Teil erfüllt. Klar, dass die Chansons der Piaf jeden im Publikum einfach mitreißen mussten. Die Hauptdarstellerin Marion Cotillard überzeugt durch ihre überraschende Verwandlungskraft, mit der es ihr gelingt, ihrer Figur eine wunderbare Glaubwürdigkeit zu verleihen. Ansonsten jedoch leidet der überlange Film (140 Min.) an seiner übertriebenen Melodramatik, die das außergewöhnliche Schicksal der Piaf nicht selten in zu grellen Farben unterstreicht und drastisch verkitscht. Auch sollten Drehbuchschreiber und Regisseur vielleicht noch einmal eine Filmhochschule besuchen. Die dramaturgische Struktur bzw. der Zeitsalat, mit dem die Geschichte zugleich von vorne und von hinten erzählt wird, ist eine Zumutung. Last but not least ist es besonders ärgerlich, dass Piafs Rolle in der Zeit des 2. Weltkriegs (sie sang z.B. vor französischen Kriegsgefangenen und war auch der Resistance von Nutzen) gänzlich ausgespart wurde.

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Marion Cotillard in ihrer brillanten Darstellung der Edith Piaf im französischen Wettbewerbsbeitrag „La Môme“ (Foto: Berlinale)

Von vielen Filmen bleibt schon nach wenigen Wochen nur noch eine schwache Erinnerung, was schon als Qualitätsmesser für die Festivalprodukte ganz leidlich funktioniert. Doch ein Film gegen Ende des Festivals stach aus dem Wettbewerbs-Einerlei dann doch noch einmal wohltuend heraus. Es war der chinesische Beitrag „Lost in Beijing“ der Regisseurin Li Yu. In filmästhetischer Frische setzt sie mit einer sehr beweglichen, manchmal geradezu verspielten, leicht wunderbar krassen Videokamera (DV) das enervierende und zu gleich berauschende Großstadtleben des Pekings des jungen 21. Jahrhunderts um, deren Bewohner noch mit ihren für sie ungewohnten Rollen und Anforderungen in dieser hektischen Zeit kämpfen. Ein junges, finanziell nicht gerade gut betuchtes Paar vom Land, sie Masseurin (Fan Bingbing), er Fensterputzer (Tong Da Wei), gerät an ein älteres, wohlhabendes, das einen großen Massage-Palast besitzt. Die junge Frau wird schwanger. Die Frage ist bloß, von wem, denn ihr Arbeitgeber (Tony Leung Ka Fai) wurde von ihr halb verführt, halb hat er sie vergewaltigt, was der Ehemann außen die Fenster putzend auch noch mit ansehen musste. Schon bald entspinnt sich aus dieser tragikomischen Ausgangssituation ein nicht minder grotesker Kampf um die Vaterschaft des werdenden Kindes. Die Konflikte nehmen kein Ende, erst recht nicht, als die alteingesessenen Städter mit den „Pekingnovizen“ einen absurden Vertrag über das zu erwartende Kind schließen. Unterschiedliche Wertvorstellungen von Jung und Alt, von Stadt und Land, von Arm und Reich prallen aufeinander, so dass beinah jedes zwischenmenschliche Verstehen auf der Strecke zu bleiben scheint. Dabei erweisen sich wieder einmal, es wird kaum einen wundern, die Männer als das schwache, weil extrem psychisch abhängige Geschlecht, und die Frauen gehen, wenn auch nicht ohne erhebliche Blessuren, als Siegerinnen aus dem erbärmlichen Familienkampf hervor.

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Fan Bingbing als werdende Mutter Ping Guo in „Lost in Beijing“ (Foto: Berlinale)

Der moderne Megacity-Moloch von Peking ist hierbei nicht nur Kulisse, sondern liefert mit seinem aufschießenden Ambiente der schwindelerregenden Hochhäuser, seinen nie enden wollenden Baustellen und Kränen und seinen alles zerschneidenden vielspurigen City-Highways Atmosphäre und Katalysator für dieses Großstadtdrama – ein Drama, das klar macht, dass die Menschen in ihrer scheinbar unendlichen Geldgier und Egoismus den Anforderungen der Zukunft noch gar nicht gewachsen sind und mit ihrer alten Moral sehr schnell am Glanz und Abschaum der Metropole scheitern. (Helmut Schulzeck)

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