58. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2008
Spirit of the Departed
„Patti Smith: Dream of Life” (Steven Sebring, USA 2008)
„Life is an Adventure of our own design, intersected by fate and a series of lucky and unlucky accidents.” Die unverkennbare Stimme von Patti Smith durchmisst in großen Schritten die eigene, mittlerweile 60-jährige Biografie, als gelte es, den selbst aufgestellten Aphorismus zu belegen: Geboren in Chicago, aufgewachsen in New Jersey, zieht Smith Ende der 60er nach New York, studiert Poesie, wählt sich Rimbaud zum Helden und befreundet sich mit dem Fotografen Robert Mapplethorpe. Sie steht ihm Modell, er finanziert ihre erste Single „Piss Factory“ (1974), zusammen ziehen sie ins berüchtigte New Yorker „Chelsea Hotel“. Mapplethorpe fotografiert das Cover für das Debut-Album „Horses“ (1975), heute eines der bekanntesten der Rockgeschichte. Vier Alben machen Patti Smith zur „Godmother of Punk“, sie schlägt eine Brücke zwischen den musikalischen Rebellen der 60er und der aufkommenden Punkbewegung. Gedichte auf ihren LP-Covern und Inlays brachten Lyrik in die Jugendzimmer amerikanischer Teenager. Ende der 70er trifft sie ihren zukünftigen Ehemann und Vater ihrer beiden Kinder Fred „Sonic“ Smith. Smith zieht sich ins Privatleben zurück, nimmt erst 1988 in Kooperation mit Ehemann Fred das Album „Dream of Life“ auf. Das Coverfoto schießt Robert Mapplethorpe. Es soll ihre letzte Zusammenarbeit sein, Mapplethorpe stirbt wenige Monate später an seiner AIDS-Infektion. 1994 sterben im Abstand von nur einem Monat Fred Sonic Smith und Patti Smiths Bruder Todd.
„Godmother of Punk“ – und mehr …: Patti Smith (Foto: Berlinale)
In dieser für die Künstlerin schweren Zeit begegnen sich Patti Smith und der Modefotograf Steven Sebring zum ersten Mal. R.E.M.-Frontmann und Smith-Fan Michael Stipe schlug Sebring als Fotografen für PR Shots vor. Sebring ist nach einem Konzertbesuch dermaßen von Smiths Ausstrahlung beeindruckt, dass er eine Dokumentation über sie drehen möchte. Es braucht etwas Zeit, bis Smith Vertrauen fasst, doch dann darf Sebring nicht nur bei Konzerten und Backstage filmen, er gewinnt Smith als Kollaborateurin. Die Musikerin, Malerin und „Punks Poet Laureate“ spricht freimütig im Off über ihr Leben und seine Höhen und Tiefen, rezitiert ihre Gedichte. Sebring begleitet Smith zu Familientreffen und auf Reisen, auf Demonstrationen und Tourneen. Über einen Zeitraum von elf Jahren dokumentiert er den Menschen Patti Smith und beweist mithin eine ungeheure Geduld und ein Durchhaltevermögen bis an den Rand des finanziellen Ruins.
Entstanden ist dabei das intime Porträt einer vielseitigen Künstlerin, die sich nicht durch das chronologische Abarbeiten biografischer Daten fassen lässt. Sebring fängt die multiplen Persönlichkeiten Patti Smiths ein: der Privatmensch, der Grabstätte von Freunden und Dichter-Vorbildern besucht oder sich an Ehemann, Freunde und Weggefährten erinnert. Die Frontfrau und Sängerin, die auf der Bühne zum Derwisch wird und ein Inferno zu entfachen vermag. Die Polit-Aktivistin und Poetin, die in ehrlicher Rage und mit einer unmittelbaren Dringlichkeit von der Bühne wie von einer Kanzel herab rezitiert. Die Tochter. Die Mutter.
„No one is just one thing. For me, this movie is about discovering who Patti Smith is“ erklärt Sebring den Ansatz für „Dream of Life“. Es ist die Persönlichkeit Patti Smiths, die die Form dieses Filmexperiments bestimmt. In unbestimmter und zeitlich nicht-linearer Abfolge reiht der Film ihre künstlerischen Aktivitäten in den Jahren 1996 bis 2006 aneinander, auf älteres Material greift der Film praktisch nicht zurück. Stattdessen haben sich Smith und Sebring einen Raum der Erinnerung einfallen lassen, in dem Patti Smith ihre „objects of life“ zusammengetragen hat. In diesem Raum finden sich Zeugnisse ihres Lebens, Kinderspielzeug, die erste Gitarre, ein Kinderkleid, Fotos, Plattenspieler mit Platten. Und eine kleine persische Urne mit einem Teil der Asche Robert Mapplethorpes. Allen Ginsberg kondulierte Smith zum Tode ihres Mannes mit den Worten: „Let go of the spirit of the departed and continue your life’s celebration.“ Patti Smith hat jedoch ihren eigenen Weg gefunden, mit Verlust und Schmerz umzugehen. Sie lebt nicht nur mit den Erinnerungen an ihre Freunde, sie zelebriert sie und hält sie so lebendig.
Steven Sebrings Film zelebriert Patti Smith und ihren ungebrochenen Willen, nicht an den Schmerzen und der Willkür des Lebens zu verzweifeln, sondern es als „Abenteuer nach der eigenen Vorstellung“ zu gestalten. (dakro)
arte zeigt „Dream of Life am 25. März um 23.05 Uhr.
Die Installation „objects of life“ wandert zur Zeit mit dem Film, mehr dazu unter www.dreamoflifethemovie.com.
Patti Smith: Dream of Life, USA 2008, 108 Min., 16mm-BlowUp auf 35mm, Regie: Steven Sebring, Kamera: Phillip Hunt, Steven Sebring, Schnitt: Angelo Corrao, Lin Polito, Philip Glass, mit Patti Smith, Lenny Kaye, Oliver Raye, Tom Verlain, Sam Shepard, Flea, Michael Stipe u.a.