58. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2008

Punk-Pandämonium, bereit zum Fall

„Nirvana“ (Igor Voloshin, Russland 2008)

Die russische Seele gilt traditionell und vorurteilsgemäß als melancholisch, schicksalsergeben. Und Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als ein tendenziell „Wilder Osten“. Beide Klischees bedient Igor Voloshin (Jahrgang 1974) in seinem ersten Langfilm „Nirvana“. Wenngleich: Punk und Gothic sind ebenso Voloshins Stichwortgeber, und so wird aus der russenmafiösen Gangsta-Story vor allem ein Märchen, das direkt aus Dantes Pandämonium im Vorhof der Hölle, die wir uns selbst inszenieren, entsprungen scheint.

Das Leben ist hart nicht nur im Underground des nach-konterrevolutionären St. Petersburg. Dorthin kommt die Krankenschwester Alisa (Maria Shalaeva), als sie das Moskauer Partyleben satt hat – in eine Wohngemeinschaft, wo auch Valera (Olga Sutulova) und ihr Freund, der sich konsequent „Toter Mann“ nennt (Artur Smoljaninow), ihr drogenabhängiges Dasein fristen. Mitten in dieser ebenso abgewrackten wie im Gothic-Punk-Style aufgebrezelten anti-bürgerlichen Dekadenz wird Alisa nicht nur zur Teilzeit-Geliebten des Toten Manns, sondern auch zum barmherzigen Rotkreuz-Engel. Was die Narben betrifft, die das Leben nicht nur seelisch, sondern auch dem Körper schlug, sind Alisa und Valera ebenbürtig. Und so freunden sich die beiden Konkurrentinnen um des Toten Mannes Schwanz nach anfänglicher Feindschaft bald an. Der Tote Mann wurde entführt und übel zugerichtet, weil er Schulden bei seinen Dealern hat. Valera und Alisa machen sich auf, ihn zu befreien, ein Kreuzzug auf Punk.

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Punk-Lady im und gegen das Pandämonium: Olga Sutulova (Foto: Berlinale)

Voloshin macht aus dieser Gangsta-Story eine opulente Oper, einen Bilderrausch aus abgefahrensten Kostümierungen im verschissenst denkbaren Ambiente einstürzender Altbauten. So blutig die Magnums ihre Kugeln um die Mädels spucken – bleihaltige Cumshots -, so fest sind ihre Prinzipien, einander und den abgedrehten Freund nicht im Stich zu lassen. Das erzeugt ein seltsames Residuum von Hoffnung mitten in der Hölle. Ein Film, der rabiat ist und dennoch so punk-poetisch wie ein Evangelium der Freund- und Leidenschaft, dass der Mensch dem Menschen, bereit zum Fall, ein Helfer sein kann. Nicht von Ungefähr grüßen da Brecht und seine „Dreigroschenoper“. Unbedingt sehenswert! (jm)

Nirvana, Russland 2008, 89 Min., 35mm. Regie: Igor Voloshin, Buch: Olga Larionova, Kamera: Dmitri Yashonkow, Darsteller: Olga Sutulova, Maria Shalaeva, Artur Smoljaninow u.a.

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