12. Filmfest Schleswig-Holstein – Augenweide 2008

Prolegomena zur Philosophie des Punk

„Übriggebliebene ausgereifte Haltungen“ (Peter Ott, D 2005, 1983, 2001, 2007)

Die 2003 gedrehte Doku „Golden Lemons“ über ihre US-Tour (Regie: Jörg Siepmann) fanden die „Goldenen Zitronen“ „richtig Scheiße“. Umso gelungener findet die Hamburger Art-Punk-Combo die neuerliche Doku „Übriggebliebene ausgereifte Haltungen“ des Ratzeburgers Peter Ott. Auch wenn Schorsch Kamerun, Ted Gaier, die Gründungsväter der Band, auch darüber allerlei zu meckern hatten. Sich selbst nicht gut zu finden, ist nämlich bei den GZ sozusagen kreatives Programm – oder auch Prolegomena zur Philosophie und damit Politik des Punk.

Punk heißt „um Gottes-Willen-Gott-ist-tot-Nietzsche“, dass jedes Einverständnis schon Tod bedeutet. Wer sich eingemeindet, ist bereits der Feind. Und weil man sich als Mensch und Band dauernd selbst an irgendetwas angemeindet, ist man selbst sich der ärgste Feind, der schlimmste Konterrevolutionär. Peter Otts Langzeitdoku zeigt solche „übriggebliebene ausgereifte Haltung“ in verschiedensten Facetten. Zu Beginn wackelt die Handkamera an den zu Porträtierenden, die gerade weg müssen, keine Zeit haben. Stattdessen ein Schwenk durch die schlimmste Provinz verfrühter Häuslichkeiten, das gefürchtete bürgerliche Nowhere-Land …

Otts Perspektive auf die unnahbaren Zitronen ist bewusst eine ebenso vorsichtige wie aufdringliche. Der Mann hinter der Hand-Cam fragt nach und freut sich fast über Antworten der Ratlosigkeit: „Weiß ich nicht“, „musst du wen anders fragen“ – das sind die filmwirksamsten Antworten. Denn Punk ist ein bewusstes Provisorium. Wer Fakten will, ist am falschen Ende der Skala und also Feind (vgl. Didrich Diederichsen: „Die Feinde meiner Feinde sind auch meine Feinde“). Erst im Aggregatzustand des „Übriggebliebenseins“ scheint Punk seine wahre Politik zu entwickeln.

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Mit Gitarrenbleifuß auf Dekonstruktion – die Goldenen Zitronen beim Konzert
(Still aus dem Film)

Ott gliedert sein „Rockumentary“ in vier Kapitel: „Ironie vs. Ideologie“, „Autonomie vs. Ökonomie“, „Publikum vs. politische Korrekturen“, „Selbstreflektion vs. Sekundärverwertung“, die treffend den Wandel der Zitronen über die letzten 20 Jahre von der Fun-Punk-Band über den Zwang zur politischen Stellungnahme bis hin zum zynischen Ankommen am Ende des Marsches durch die Institutionen beschreiben. Die Zitronen sind sozusagen zu schlau, um einfach nur Kunst oder Musik zu machen. Überall lauern dialektische Fallen, in die sie ganz bewusst tappen. Entsprechend reflektiert, um nicht zu sagen: gefangen in der eigenen Überreflektiertheit, begegnen die Bandmitglieder von damals und heute dem Filmemacher. Der wiederum bedient sich eines genialen Tricks, um nicht selbst über die Fußangeln der Dialektiken zu stolpern. Ott inszeniert die „talking heads“ der Interviews mit den GZ-Protagonisten Kamerun und Gaier mit einem Laienschauspieler (Otts Schwiegervater), der „mit dem Rock-Universum gar nichts zu tun hat“ und deren Texte halb ratlos, halb amüsiert vom Manuskript abliest. Durch diese neue Ebene wird das permanente Selbstversteckspiel der GZ demontiert und in solcher Ferne vom vermeintlich Authentischen, aber bloß Selbstinszenierten, wieder authentisch.

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Peter Ott beschreibt auf der Augenweide sein dokumentarisches Verfahren
(Foto: Lorenz Müller)

„Realität kann man nicht abbilden“, weiß Ott, „weil die Abbildung immer einem Interesse folgt“. Besonders komplex wird diese sozusagen „Unschärferelation des Dokumentarischen“, wenn das Abbild wiederum ein konstruiertes Abbild abbilden will. Und im Grübeln des Zuschauers über diese changierenden Ebenen werden die Goldenen Zitronen umso hautnäher nahbar – und damit ein wichtiges Stück der Punk-Geschichte. Eine Dokumentation, die vor allem in ihrem ständigen Gestus der Selbsthinterfragung und -entfernung ihrem Gegenstand besonders nahe kommt. (jm)

„Übriggebliebene ausgereifte Haltungen“, D 2005 – 1983 – 2001 – 2007, 90 Min., Buch, Regie, Schnitt, Ton: Peter Ott, Kamera: Peter Ott, Margit Czenki u.v.a., Musik: Die Goldenen Zitronen. Gefördert von der Filmwerkstatt Kiel der FFHSH.

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