11. Filmfest Schleswig-Holstein – Augenweide

Milieustudien fremder Heimaten

Impressionen vom 11. Filmfest Schleswig-Holstein Augenweide und dem Symposium „Heimatfilm“

Von drei Verlierern handelt der Gewinner beim 11. Filmfest Schleswig-Holstein Augenweide: „Preußisch Gangstar“ von Bartosz Werner und Irma-Kinga Stelmach. Die Jury (Jörg Wagner, Gudrun Wassermann und Kai Zimmer) lobte die „hohe Authentizität“ und das „überzeugende Abbild der Realität“ der „Milieustudie einer Jugendgang im brandenburgischen Buckow“ und bewies mit ihrer Wahl auch insofern ein glückliches Händchen, als der prämierte Film ein Thema repräsentiert, das die gesamte Augenweide durchzog: Heimat als manchmal fremde Welt – oder auch das Fremde als Heimstatt des Surrealen.

Die Buckower Bad Boys in „Preußisch Gangstar“ schweben eigentümlich zwischen ihren gutbürgerlichen Patchwork-Familien, in denen sie weder an-, noch von denen sie los kommen können, und den eher hilflosen Ausbruchsversuchen in die Gegenwelten von HipHop, Drogen, Kickboxen und Kleinkriminalität. Der Film zeichnet eine in mehrfacher Hinsicht heimatlose Generation in mitten ihres spießig-unspektakulären Alltags.

Heimat im Sinne von Geborgenheit in der Welt scheint nicht nur im Gewinner-Film allein definierbar über ein Gefühl der Fremde. In der Doku „Schweigen ist Silber“, die die Jury lobend erwähnte, ist der Gegensatz Heimat/Fremde sogar ein lebensgeschichtlicher. Regisseur Florian Aigner zeichnet in einer „ruhigen, zurückhaltenden Umsetzung, die den Protagonisten stets Raum und Zeit lässt sich zu erinnern“ (Jury) die Geschichte seiner Schwiegerfamilie nach. Die Großmutter war während des 2. Weltkriegs Nachrichtenhelferin in Paris und zeugte mit einem Franzosen einen Sohn, den sie Zeit ihres Lebens verheimlichte. Zurückgekehrt in die „Heimat“, gründete sie eine „ganz normale“ Familie, deren Nachkommen jetzt nach dem verlorenen Sohn forschen. Sie finden ihn und es kommt zur schwierigen Wiederbegegnung zweier Halbbrüder, denen mit ihrer nicht gelebten gemeinsamen Geschichte auch ein Stück Heimat abhanden kam.

Dass Heimat und Fremde nur zwei Seiten derselben Medaille sind, zeigte schon das der Augenweide vorausgehende Symposium „Heimatfilm“. Dort waren nicht nur die Dokus „Full Metal Village“ (über das Dorf Wacken und sein Heavy-Metal-Festival) und „Der Wirt, die Kneipe und das Fest“ (über das Hahnbeerfest im Heider Stadtteil Südereggen) zu sehen, die das Changieren zwischen Nähe und Distanz, heimatlichem und fremdem Blick, auf filmästhetischer Ebene eindrucksvoll demonstrierten. Auch die Dokufiktion „Pannonian Hill“ des ungarischen Gasts József Szolnoki, der auch die Kurzfilme aus den Programmen des ungarischen Partnerfestivals MEDIAWAVE präsentierte, nimmt sich des Themas Heimat bewusst ambivalent an: Das donauschwäbische Dörfchen Pannonhalma hat die höchste Selbstmordrate durch Erhängen, mitten im schrebergärtnerischen Idyll glaubt man an stets nahende Weltuntergänge und vollzieht sie. Die Heimatlosigkeit in einer „Wende-Gesellschaft“ zwischen Tradition und globalisierter Postmoderne schlägt ins grotesk Surreale um.

Der rote Faden eines in so Fremdelndes verschobenen Blicks wob sich auch durch das Kurzfilmprogramm der Augenweide. Ob im „Taxi to Daydream“, einem deutsch-brasilianischen Austauschprojekt, die „Heimat-Bilder“ von São Paulo und Kiel sich zu einer surrealen Verwechslungskomödie verdichten, in „5 Meter unter Holtenau“ ein Kieler Mini-U-Boot buchstäblich in andere Welten abtaucht oder der mit seinem Film „NimmerMeer“ jüngst für den Studenten-Oscar nominierte Toke K. Hebbeln in „Hilda und Karl“ Romeo und Julia einen doch mal heimatlichen Balkon bereitet – immer kann nur der in der Heimat ankommen, der vorher aus ihr auszog, um das Fremde zu lernen. Matthias Meyer bringt solche Dialektik in seinem Experimentalvideo „The Black Museum“ auf den erkenntnistheoretischen Punkt: Im Louvre sind plötzlich alle Gemälde schwarz. Das Bildnis verschwindet – vielleicht, weil man sich keines machen soll? Jedenfalls keines, das Heimat, Ankommen, Geborgenheit ohne deren Gegenüber, Fremde, Verlorenheit, Geworfensein, entwirft. (jm)

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