57. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2007
Keine Perspektive
„Osdorf“ (Maja Classen, D 2007)
Osdorf bei Hamburg ist eines den Hochhaussilos an deutschen Stadträndern, die zu sozialen Brennpunkten wurden, weil sie für gut Verdienende als Wohnort unattraktiv sind und nur mehr als Auffanglager für die sozial Ausrangierten taugen. Arbeitslosigkeit, hohe Kriminalitätsrate, Gewalttätigkeiten, Drogenkonsum: Wer in einem solchen Ghetto aufwächst, muss sich rauskämpfen, Lebensperspektiven werden hier nicht aufgezeigt. Und solange man hier ist, muss man sich behaupten, sich Respekt verschaffen und ein dickes Fell zulegen.
Maja Classens Diplomfilm „Osdorf“ für die HFF „Konrad Wolff“ ist ein Gruppenportrait ausschließlich männlicher, jugendlicher Migranten. Schnell wird deutlich, dass sich die Jungs keine Illusionen über ihre Situation und ihre gesellschaftliche Zukunft machen. Mühsam halten sie eine Gruppenidentität aufrecht, die sich aus Versatzstücken US-amerikanischer Rap- und deutscher Kiez-Kultur speist. Was zunächst nach Ghetto-authentischer Abgeklärtheit aussieht erweist sich alsbald als tiefe Resignation und Gleichgültigkeit. Selbst ein Gruppen-Besuch im Knast Santa Fu inklusive Auge-in-Auge-Gespräch mit Knackis, darunter Drogendealer und mehrfache Mörder, setzt nicht wirklich die erhofften Selbsterkenntnisse in Gang. In der Gruppe der Osdorfer Jugendlichen machen schnell wieder die selben Macho-Sprüche die Runde oder Fatalismus über das vorhersehbare Ende der eigenen Kriminellen-Karriere wird zur Ghetto-Gangster-Pose erhoben.
Ghetto-Gangster-Posen in der Perspektivlosigkeit – „Osdorf“ (Foto: Berlinale)
Die Indifferenz der Portraitierten überträgt sich tendenziell auch auf den Zuschauer, denn Classens dokumentarischer Versuch, die Risse in der Oberfläche zu vertiefen, scheitert. Zwar gibt es die „schwachen Momente“ in Einzelgesprächen, wird die Sehnsucht nach einem anderen Leben spürbar, wenn auch kaum artikuliert. Selbst die Gruppe gilt nicht als verlässlicher Rückhalt. Vielleicht hätte man an diesen Stellen fordernder im Interview sein müssen. Möglicherweise hätte auch ein Perspektivwechsel, Interviews mit Familie, Lehrern, Sozialarbeitern oder ein längerer Beobachtungszeitraum neue Innen-Einsichten gebracht. Doch Classen entschied sich offensichtlich, nur bei den Kids zu bleiben, und belässt es die meiste Zeit dabei, ihnen beim Posen zuzuschauen. Allenfalls kann man „Osdorf“ als Momentaufnahme einer Gruppe in völliger Stagnation und Perspektivlosigkeit stehen lassen. Die muss dann aber nicht abendfüllend sein. (dakro)
Osdorf, D 2007, 80 Min., DigiBeta. Regie, Buch: Maja Classen, Kamera: Christoph Lemmen, Johannes Neumann, Schnitt: Thomas Krause