58. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2008

Erfahrungen der Fremde

Berlinale Shorts 3: „Udedh Bun“, „White Horse“, „Nightstill“, „Black Cabinet“, „Trip“, „Impermanent“

Der Teenager Ashu (Alok Rajwade) muss sein Leben neu erfinden, nicht nur weil er in der Pubertät steckt. Seine Mutter liegt im Sterben, er hat sich in die Frau des Nachbarn verliebt, und in der Schule ist er den auch gewalttätigen Neckereien seiner Mitschüler ausgesetzt. Siddharth Sinhas „Udedh Bun“ wirkt vom Plot her ein wenig wie ein „Coming off age“-Film, ist aber erzählerisch weit experimenteller. Kaum Dialoge, dafür seltsam verzerrte Umweltgeräusche, die sich anhören wie aus Traumwelten. Fast jede Einstellung hat zudem einen doppelten symbolischen Boden, nicht nur wenn der verschlossene Ashu aus Kreidestücken kleine Skulpturen schnitzt. Eine entrückte Atmosphäre durchzieht den ganzen Film, der die Handlungsfragmente so bewusst unverbunden reiht, wie sich für Ashu das Leben darstellt.

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Symbolische Skulpturen gegen die Fremde der Welt:
Alok Rajwade in „Udedh Bun“ (Foto: Berlinale)

Ein Entwurzelter ist auch Maxim Surkov. Als im April 1986 der Reaktor in Tschernobyl explodierte und die nahe gelegene Stadt Pripjat verstrahlte, wurde Maxim jäh aus seiner heilen Kinderwelt im für damalige Verhältnisse fortschrittlichen Plattenbau gerissen. Seine Familie wurde in einer Nacht-und-Nebel-Aktion evakuiert, genauer: deportiert. 20 Jahre später kehrt Maxim in seine Heimatstadt zurück und wird dabei von Maryann De Leo und Christophe Bisson mit der dokumentarischen Kamera begleitet. Die Reise führt in eine Geisterstadt, in die Sicherheitszone gelangt man nur mit Passierschein. Maxim findet seinen alten Wohnblock, und auch die ehemalige Wohnung enthält noch manches Erinnerungsstück, etwa eine Fototapete mit einem weißen Pferd, die einst sein Kinderzimmer zierte (und dem Film den Titel „White Horse“ gab). Das Regisseur-Duo fängt bedrückende Bilder ein. Die verlassenen Häuser sind wie Friedhöfe für Erinnerungen. Sie zeigen noch die überstürzte Flucht – und vom Balkon aus kann man den Schornstein des Todesreaktors sehen. Für Maxim ist es dennoch ein nicht nur trauriges Wiederfinden der Kindheit. Gerade durch die Zerstörung seines Kindheitsparadieses weiß er, dass er eines gehabt hat.

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Maxim Surkov in der Geisterstadt seiner Kindheit (Foto: Berlinale)

Wie das Vertraute fremd werden kann, zeigt auch Elke Groens Experimentalfilm „Nightstill“. Mit einer Zeitrafferkamera zeigt sie die Nacht im verschneiten Dachsteingebirge. Der Mond und die Sterne ziehen so rasche Lichtspuren durch die düsteren Bilder wie Seilbahngondeln oder Autos, deren Scheinwerfer kurz aufblitzen. Nebel fallen und heben sich wieder, die Schatten eilen wie die wenigen schemenhaften Menschen, die durchs Bild huschen. Als Soundtrack laufen nicht minder verfremdete kratzende Geräusche. Groen kommt von der Fotografie her, was man dem Experimentalfilm anmerkt. Die Bilder sind sozusagen künstlich filmisch – durch Zeitverlauf bewegte Stillleben, wie ja auch der Titel bereits andeutet. Die romantische Bergszenerie – manches Postkartenmotiv wäre am Tag darunter – wirkt so wie von einem anderen Planeten. Ein V-Effekt, der das Wirkliche in seiner Fremdheit umso wirklicher erscheinen lässt.

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Nächtliche Stillleben im Zeitraffer (Foto: Berlinale)

Eine Marotte des dekadenten Bürgertums am Ende des 19. Jahrhunderts nimmt Christine Reberts Animationsfilm „Black Cabinet“ aufs Korn. In einer spiritistischen Sitzung soll eine Roulette-Kugel die Welt erklären. Nur sind die Damen und Herren so gelangweilt, dass sie nicht merken, dass letztlich eine Maschine die Welt steuert – namentlich ein mechanistisches Kasperletheater. Rebert ordnet beide Szenerien im Splitscreen übereinander an. So kommentiert ein Bild das andere – oder konterkariert es auch. Die Welt als „Black Box“, in die man nicht schauen kann, was da werkt. Nur die zahlreichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts sind als Ergebnis sichtbar.

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Gelangweilte Bürger in ihrem „Black Cabinet“ (Foto: Berlinale)

Manche Katastrophen sind nicht so weltwirksam und dennoch wirkmächtig. Mick (Sam Hazeldine) entführt seine beiden Töchter Kim (Karis Igoe) und Sabrina (Chloe Garner), um gegen den Willen der Mutter Jenny mit ihnen nach Spanien zu reisen. Der Coup gelingt zunächst, doch die Töchter riechen das Unrecht und zeigen sich widerständig, zumal ihr Dad von ihnen sichtlich überfordert ist. Erst sperren sie ihn aus dem Wohnmobil aus, dann versagt bei selbigem der Motor. Und am nächsten Morgen steht Micks Ex Jenny mit der Polizei vor der Schiebetür und bereitet dem „Trip“ ein schnelles Ende. Eine kleine Geschichte, die Harry Wootliff da erzählt – mit großen Bildern, sprich vorwiegend in Großaufnahmen, die die vermutlich ziemlich alltägliche Geschichte entsprechend befremdend vergrößert wirken lassen. Ein großes Drama, das aus kleinen Dramen besteht, ein Weltausschnitt aus der Welt, die eben nicht groß und weit sein will.

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Flucht ins Fremde: Sam Hazeldine in „Trip“ (Foto: Berlinale)

Fremd im eigenen Land ist der 96-jährige Ali Akilah. Der Palästinenser stammt aus Lifta, einem westlichen Vorort von Jerusalem. Seit der Besetzung des Landes durch die Israelis ist Ali heimatlos – womit er sich allerdings ganz gut arrangiert hat. In Haifa betrieb er eine gynäkologische Praxis und mit den jüdischen Mitbewohnern und Patienten verstand er sich eigentlich recht gut. Dennoch ist da eine Wunde, die sich in seiner weinerlich singenden Stimme verbirgt. Der alte Mann jedoch mag sie nicht benennen, erzählt vielmehr immer wieder, wie er allen Irrungen und Wirrungen in seinem Leben begegnete. Mario Rizzi lässt ihn frei weg in die Kamera erzählen, und wir werden zu Zuhörern einer Lebensbeichte eines Menschen, der vor allem unter einem leidet: der Unbeständigkeit, die auch ein erfülltes Leben in der Rückschau zu etwas einem selbst Fremdes werden lässt. (jm)

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Ali Akilah erzählt (Foto: Berlinale)

Udedh Bun, Indien 2008, 21 Min., 35mm, R: Siddharth Sinha, D: Alok Rajwade, Shubangi Damle, Swati Sen

White Horse, USA / Frankreich 2008, 18 Min., Beta SP, R: Maryann De Leo, Christophe Bisson, D: Maxim Surkov

Nightstill, Österreich 2007, 9 Min., 35mm, R: Elke Groen

Black Cabinet / Schwarzes Kabinett, USA 2007, 4 Min., 35mm, R: Christine Rebet

Trip, Großbritannien 2007, 15 Min., Digi Beta, R: Harry Wootliff, D: Sam Hazeldine, Karis Igoe, Chloe Garner

Impermanent / Unbeständig, Italien 2007, 15 Min., Digi Beta, R: Mario Rizzi, D: Ali Akilah

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