57. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2007

Einmal Familie und zurück

Ad Lib Night (Lee Yoon-ki, Korea 2006)

Ein Dummer-Jungen-Streich? Trickbetrüger? Triebtäter? In der sehr effizienten Exposition lässt Regisseur Lee Yoon-ki die tatsächlichen Motive der beiden jungen Männer zunächst offen: Wollen sie in der Seouler Teenagerin Bo-kyung tatsächlich die lang gesuchte Myugen erkannt haben? Ist deren krebskranker Vater nur ein Vorwand, um eine junge Frau in ein Auto zu locken? Ebenso rätselhaft bleiben Bo-kyungs Beweggründe, die Fahrt aufs Land anzutreten. Sind es Hilfsbereitschaft und Neugier, die sie der Bitte, für einen Tag die reuig heimkehrende Tochter zu spielen, nachkommen lassen? Die Abschiedsworte werden diskutiert und geübt. Praktische Bedenken schwinden aber schnell, denn die gesamte Verwandtschaft, die im Hause des sterbenden Familienpatriarchen versammelt ist, glaubt zunächst in ihr die verlorene Tochter zu erkennen. Die Tante will auch nach Aufklärung nicht von dem Glauben ablassen, in ihr die tatsächliche Myugen vor sich zu haben. Der Familienrat berät lange, ob man dem Vater in den letzten Augenblicken etwas vormachen sollte, doch die Diskussion wird schnell beiseite geschoben, als sich der Zustand des „Vaters“ plötzlich verschlechtert. Bo-kyung soll als Muygen an das Sterbebett treten.

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Familiäre Schimäre: Die trauernde Tochter wider Willen (Foto: Berlinale)

Lee Yoon-Ki lässt in „Ad Lib Night“ eine junge Städterin im Schnellverfahren die Höhen und Tiefen eines engen, Generationen umspannenden Familienlebens erfahren: die konzentrierte Nähe der Trauernden, das Aufbrechen alter Familienzwiste. Doch das Beziehungs-Konstrukt ist äußerst fragil und wird in diesem Moment nur durch den bevorstehenden Tod des Ältesten in einer temporären Balance gehalten. Denn während die Alten sich bereits über das Erbe streiten, diskutieren die jungen Frauen, ob es besser sei, auszubrechen und ein selbstständiges, aber einsames Leben in der Stadt zu führen oder im Tausch gegen die familiäre Geborgenheit die permanente Einmischung  und Regulierung zu akzeptieren. Vor diese Frage wird Bo-kyung in doppelter Weise gestellt: Fast scheint es, als hätte sie die Wahl, in die Familie aufgenommen zu werden. Doch warum hatte Muygen das wärmende Familiennest einst verlassen? Hat sie dort doch nicht die Liebe gefunden, die sie suchte?

„Ad Lib Night“ ist keiner jener koreanischen Filme, die extreme Emotionslagen durch ästhetisch überhöhte Bilder sichtbar machen. Auch auf Situationsdrastik wird man vergeblich warten, sieht man von der Exposition einmal ab. Lee lässt dem Zuschauer Zeit, sich in die Protagonistin hinein zu fühlen und mit ihr einen inneren Diskurs über die Unvereinbarkeit von familiärer Nähe und einem selbst bestimmten Leben zu führen.

Wenn Bo-kyung am Ende des Films wieder in der eng bebauten Leere Seouls steht, wird sie in einem Sehnsuchts-Anflug ihre Mutter anrufen. Doch die fühlt sich dadurch nur gestört. In Lee Yoon-Kis Geschichte sind die Kinder die Verlassenen. (dakro)

Ad Lib Night / Aju teukbyeolhan sonnim, Korea 2006, 99 Min., 35 mm. Buch, Regie: Lee Yoon-ki (nach einer Geschichte von Azuko Taira), Kamera: Choi Sang-ho, Schnitt: Kim Hyung-joo, Jeong Kwang-jun

 

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