57. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2007
Der letzte Amerikaner in Nord-Korea
„Crossing The Line“ (Daniel Gordon, GB 2006)
James Joseph „Joe“ Dresnok ist ein Überlebender, sein Credo lautet: „Everyone has to adopt himself to life“ – Passe dich an das Leben an. Überlebt hat er die Verstoßung aus dem ärmlichen Elternhaus, das Waisenheim in Virginia und seine aktive Militärzeit in der US Army während des Korea-Krieges. Als auch hier sein Überleben auf dem Spiel stand, wechselte er auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges 1962 die Fronten, desertierte in das kommunistische Nord-Korea.
Anfang der 60er ist die DMZ, die entmilitarisierte Zone um den 38 Breitengrad, die verbissen verteidigte Grenzlinie zum Kommunismus. Der dreijährige Korea-Krieg kostete 4 Millionen Menschen das Leben, 2 Millionen Soldaten bewachten nach dem Ende der Kampfhandlungen die 2 Meilen breite, entmilitarisierte Zone. Es kam und kommt weiter zu Übergriffen, die DMZ ist heute die letzte Grenze des Kalten Krieges. Retrospektiv spricht man in Süd-Korea vom „Forgotten War“. Das kommunistische Regime unter Kim Il-Jung wertet den Konflikt als „The Great Victorious War“.
In diesem historischen Spannungsfeld spielt sich das zweite Leben von Joe Dresnok ab. „Crossing The Line“ von Daniel Gordon erzählt die Geschichte von „Genosse Joe“: Vom Westen vergessen oder geleugnet, von den koreanischen Kommunisten zu Propagandazwecken missbraucht. Joe Dresnoks Biografie gibt Gordon Anlass, weit auszuholen und unser Geschichtswissen über den „vergessenen Krieg“ und das andere in Ideologie-Zonen geteilte Land aufzufrischen. „Crossing The Line“ wechselt beständig zwischen der Innenperspektive des Deserteurs und Propagandahelden Dresnok und einer Außenperspektive, die den historischen Maßstab anlegt. Gordon hat bereits zwei Dokumentarfilme in und über Nord-Korea gedreht und konnte vielleicht deshalb ein Vertrauensverhältnis sowohl zu Dresnok als auch zu nord-koreanischen Offiziellen aufbauen. Zum ersten Mal sprechen sowohl Dresnok auf der einen und seine amerikanischen Vorgesetzten auf der anderen Seite über dessen Desertation am 15. August 1962, die binnen kurzer Zeit drei weitere Überläufe nach sich zog. Die Propaganda-Maschinerie Nord-Koreas macht die vier Deserteuere zu Ikonen des Kommunismus. Richtig populär werden die Vier durch die Verkörperung des amerikanischen Klassenfeindes in propagandistischen Action-Filmen der 70er. Die Kehrseite ihres Pop-Star-Daseins ist nahezu völlige Isolation sowohl vom täglichen koreanischen Leben als auch vom Weltgeschehen. Ein Fluchtversuch misslingt, verschärfte Umerziehung wird angeordnet. Dresnok versteht: Wenn er tatsächlich in Nord-Korea (über-) leben will, muss er sich anpassen. Er lernt die Sprache gründlich, studiert Geschichte und Sitten. Als einziger der vier Amerikaner lebt er heute noch in Pjönjang.
„Genosse Joe“ in Pjönjang (Foto: Berlinale)
Gordon gelingt mit „Crossing The Line“ eine überaus interessante Biografie und historische Fallstudie. Der Film bietet ein hohes Maß an Informationen, die Gordon aber sehr strukturiert über den Film verteilt. Nie hat man das Gefühl, dass die Beteiligten die Ereignisse und ihre persönlichen Einschätzungen in der Retrospektive schönen. Mit Joe Dresnok hat Gordon zudem einen faszinierenden Protagonisten, der sich sein kleines Lebensglück in einer fremden Kultur erkämpfen musste und schmerzhaft offen über den langen Weg dorthin berichtet. (dakro)
Crossing The Line, GB 2006, 90 Min., 35mm. Regie, Buch: Daniel Gordon, Kamera: Nick Bennet, Schnitt: Peter Haddon