56. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2006
Als die Bilder Sprechen … und wieder Schweigen lernten
„Der die Tollkirsche ausgräbt“ (Franka Potente, D 2006)
Ein famos experimentelles Regiedebüt ist Franka Potente da gelungen – nebst einer luzid symbolischen Liebeserklärung an den Stummfilm, als die Bilder zwar Laufen, aber noch nicht Sprechen gelernt hatten. Mit den originalen kinematografischen Mitteln des Stummfilms (Schwarzweiß, ruckelnde Bilder, statische Kamera, Lochblenden und Vignetten, Texttafeln als „Sprechblasen“, stark geschminkte Darsteller) und auch vom typisch stummfilmhaften Plot her inszeniert Potente ein perfektes Retro-Remake.
Cecilie (Emilia Sparanga), die Tochter einer verarmten Familie, soll 1918, am Ende des 1. Weltkriegs – und einer Epoche, an den reichen Alfred (Max Urlacher) verheiratet werden, wogegen sie sich sträubt. Doch die Hochzeitsvorbereitungen laufen auf Hochtouren, als die Familie im Garten einen Stoffzipfel entdeckt, der zu einer vergrabenen Mumie führt. Aus der „entpuppt“ sich ein Punk (Christoph Bach) unserer Tage, ein Zeitreisender, denn er bringt den Ton in den Stummfilm und kann als einziger nicht nur in Texttafeln, sondern wirklich sprechen. Da sein T-Shirt eine Krone zeigt, wird er für den neuen Kaiser gehalten und prompt verliebt sich Cecilie in den „Prinzen“. Um eins mit ihm zu werden, bedient sie sich eines alten Rituals, gräbt um Mitternacht eine Tollkirsche aus und braut daraus einen Zaubertrank, der die Liebenden vereint, weil auch sie unter seiner Wirkung plötzlich sprechen kann – wenn auch nur rückwärts.
Stumm expressionistisch geschminkt: Max Urlacher, Emilia Sparagna in „Der die Tollkirsche ausgräbt“ (Foto: Berlinale)
Der Plot liefert Potente zahlreiche Möglichkeiten zu Zitaten der expressionistischen Stummfilmästhetik etwa aus „Nosferatu“, aber auch aus dem chaplinesken Slapstick-Genre. Nicht zuletzt der sprechende Punk aus einer anderen Welt ist ein Symbol, denn er verstört die nostalgisch „heile“ Welt des Stummfilms, in dessen allein bildhaftem Erzählen der Ton wie ein Fremdkörper wirkt. Wie die Filmgeschichte zeigt, hat der Ton nicht nur den Stummfilm vollständig verdrängt, auch seine bilderstarke Ästhetik. Und so muss Potente ihrem Protagonisten wie dem Film das Sprechen wieder abgewöhnen, denn nur so kann er überleben, herübergerettet werden in eine Zeit, in der es ihn eigentlich nicht mehr gibt. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold – am Ende siegt die Magie, denn Cecilie und ihr Punkprinz sind erst wirklich vereint, wenn sie sich zurück in den Kokon der Mumie wickeln und ins Grab der Vorzeit versinken, als die Bilder noch nicht Sprechen, aber dafür um so bewegender Laufen lernten. (jm)
Der die Tollkirsche ausgräbt, D 2006, 40 Min., 35 mm. Regie, Buch: Franka Potente, Darsteller: Emilia Sparanga, Christoph Bach u.a.