57. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2007
Abschied von der Familie
„Nachmittag“ (Angela Schanelec, D 2007)
2001 wurde Angela Schanelecs „Mein langsames Leben“ im Forum der Berlinale aufgeführt und sorgte für sehr unterschiedliche und intensive Reaktionen. Kolportiert wurde allerdings die Ablehnung durch jenes Publikum, das mit Empörung reagierte. Was war passiert? Die Zuschauer hatten die Arbeit einer Filmemacherin gesehen, die ihre Figuren sehr genau beobachtet und kleinste Veränderungen, Entscheidungsprozesse mit der Kamera wahrnimmt. Das verlangt auch vom Zuschauer eine geduldige und aufmerksame Rezeption. Angela Schanelec traut sich, ihre Filme gegen gängige Konventionen und Erwartungen zu gestalten. Das kann für sich genommen noch keine Tugend sein. Aber ihre Filme erwiesen sich als eigenständige und konsequente Arbeiten, die mehr noch als in Deutschland in Frankreich geschätzt werden. „Marseille“ (2004) mit einer hervorragenden Maren Eggert in der Hauptrolle lief auf dem Filmfest in Cannes in der Reihe „Un Certain Regard“. Jetzt feierte Angela Schanelec mit ihrem neuen Film „Nachmittag“ auf der Berlinale Premiere.
Das Drehbuch für „Nachmittag“ basiert auf dem Theaterstück „Die Möwe“ von Anton Tschechow, das Schanelec für ihren Film adaptierte. Auch ohne dieses Vorwissen wird die dramaturgische und sprachliche Nähe zum Theater recht schnell deutlich und muss akzeptiert werden, will man sich dem Film nicht verschließen. Die Theaterschauspielerin Irene besucht nach längerer Abwesenheit ihren Sohn Konstantin und ihren Bruder Alex in einer Berliner Villa mit Zugang zum See. Zu Besuch ist auch die Freundin des Sohnes, Agnes, die mit Konstantin aufwuchs, und zum Studieren fort ging. Konstantin lebt nach wie vor mit dem alternden Alex in der Villa. Schnell wird deutlich, dass sich Mutter und Sohn zu weit voneinander entfernt haben. Alle Versuche, sich wieder einander zu nähern, ertrinken in einer Mischung aus Verletztheit, Verachtung und Ironie. Auch Agnes und Konstantin haben sich entfremdet. Agnes versteht sich besser mit dem Liebhaber der Mutter, den diese als emotionale Wärmflasche mit ins Haus bringt. Alex erklärt seiner Schwester ohne Umschweife, dass er sich für sie nicht mehr interessiert, und begreift die allgemein schwindende Anteilnahme an seinen Mitmenschen als Segen des Alterns. Jegliche Versuche verbaler Kommunikation zwischen Irene, ihrem Sohn oder ihrem Bruder scheitern. Konstantin verzweifelt an der Erkenntnis seiner Einsamkeit.
Miriam Horwitz als Agnes in „Nachmittag“ (Foto: Berlinale)
An den drei beobachteten, bleischweren Sommer-Nachmittagen wird deutlich, dass die Familie in eine emotionale Lähmung verfallen ist, aus der sie sich nicht mehr lösen kann. Wie der Schwimm-Ponton in der Mitte des Sees sind alle Protagonisten für sich und vom Ufer einer substantiellen, wärmenden Bindung weit entfernt. Diese Beziehungslosigkeit, das Desinteresse aneinander bei gleichzeitiger verzweifelter Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit zerreißt die Figuren innerlich oder lässt sie erkalten. Schanelec macht diese Zerrissenheit spürbar und die manchmal kaschierten, manchmal offenen Aggressionen nicht nur sichtbar, sondern glaubhaft. Man kennt solche verfahrenen familiären Situationen. Auch wenn in „Nachmittag“ keine Durchschnittsfamilie portraitiert wird, sondern intellektuelles Großbürgertum, die Grundkonflikte und Verhaltensmuster sind allzu vertraut. Es sind bittere Erkenntnisse, die Angela Schanelec uns präsentiert, dazu mit Präzision und messerscharfer Klarheit. Zum Gelingen des Films tragen außerdem ein wunderbares Ensemble mit den zwei herausragenden Jungdarstellern Jirka Zett (Konstantin) und Miriam Horwitz (Agnes) bei. Die Kameraarbeit von Reinhold Vorschneider und Bettina Böhlers Schnitt tragen einen wesentlichen Teil dazu bei, dass Schanelecs Filme eine erkennbare, eigenständige Handschrift haben. (dakro)
Nachmittag, D 2007, 97 Min., 35 mm. Regie, Buch: Angela Schanelec (nach „Die Möwe“ von Anton Tschechow), Kamera: Reinhold Vorschneider, Schnitt: Bettina Böhler, Darsteller: Jirka Zett, Miriam Horwitz, Angela Schanelec, Fritz Schediwy, Mark Waschke