JazzBaltica 2006
Kurbelnde Klaviere und flirrende Fusionen
JazzBaltica und seine (nicht nur) „on piano“ All-Stars
Wichtiger als das Instrumental-Motto „on piano“ kann bei JazzBaltica eigentlich nur einer sein und der spielt Posaune. „Mr. JazzBaltica“ Nils Landgren wurde im Februar fünfzig. Und wo könnte er diesen runden Geburtstag besser feiern als in Salzau? Motto hin oder her, der Sonnabend beginnt wie schon der Festival-Freitag mit einem „Celebrating Nils“ der NDR Bigband, deren Posaune Landgren seit Januar wieder bläst, unter der Leitung von Vince Mendoza.
Mendozas grenzgängerische Fusion-Arrangeurskunst ist bei JazzBaltica ein Dauerbrenner, der diesmal an Stücken zündelt, die alle mit dem Jubiliar zu tun haben. Der lockert sein „red horn“ für knalliges Gebläse mit viel Funk im Posaunenzug, aber auch als Sänger ist Landgren damals wie heute der feinfühlige Balladenmeister mit einer Kopfstimme wie aus Engelskehlen. Kongenial in allen Stimmlagen die NDR Bigband als fast schon Landgrens Heimspiel-Ensemble, aber auch sonst großmeisterlich flirrend im Fusiontempel von Big Brother Nils an der Seite der Priester Mendoza, Peter Erskine (dr) und Pat Metheney (g).
Soweit der Festakt, jetzt geht’s beinahe anarchistisch an die Tempelfundamente. Mit seinem kurbelnden Klavier ist Stefano Bollani ein wahrer Kobold. Geradezu bösartig, wie er die Konventionen „schöner“ Tastenarbeit unterminiert. Klingt lyrisch im Kreisen am ganz großen Radius, klingt nach swingendem Planetengetriebe, ist aber stets der Hammer, der seinen Amboss erst noch finden muss. Die Trio-Partner Jesper Bodilsen (b) und Morten Lund (dr) setzen solchem italienischen Übermut nicht gerade skandinavische Kühle entgegen, sondern kurbeln munter mit durch dunkle Romantizismen, lustvoll geloopten Latin und staccato-getupfte Skalen aus dem Bop-Webstuhl. Wo Bollani die Angst des Tormanns vor der Phrase umtreibt, zelebriert Mulgrew Miller letztere schnörkellos im Habit des Rhythm’n’Blues. Ivan Taylor (b) und Rodney Green (dr) liefern dazu die dezente Motorik. „Carousel“ heißt treffend eine Originalkomposition zu solchem sich nicht im Kreise, sondern in Spiralen auf und abwärts Drehen, worin Miller, das Missing Link zwischen Art Blakey und „contempory art“, das Volkslied „Oh, du lieber Augustin“ auch nicht von Ungefähr zitiert.
„Alles ist hin …“, aber eben auch hin und weg, wie man sein könnte, wenn man der unverstellten Stimme von Ulita Knaus lauscht. Wo Nachfolgediskussionen und Vergleichsanstrengungen à la „klingt wie“ das Neue, das JazzBaltica wie eh verdienstvoll zu markieren versteht, nur unzureichend beschreiben, könnte die deutsche Charakterstimme ebenso ein Beispiel für „neue Einfachkeit“ wie für „Fusion rulez“ sein. Beglückend, mit welcher Selbstverständlichkeit Knaus etwa Al Jarreaus „Fly“ neue Flügel andichtet, wie sie Balladen den bedrohlichen Unterton nicht ausbügelt, sondern die Falten flattern lässt, wie sie selbst Stefano di Battistas steilkurvendem Saxofon die Mädchenstirn bietet, wie sie nicht scattet, weil der Text ausgesungen ist, sondern weil der Scat den Text kommentiert.
Noch mehr Freude am Neuen bringen die Alten: Don Friedman ist zwar nicht „Mr. JazzBaltica“, aber „Mr. on piano“. Letztes Jahr durfte er bei JazzBaltica seinen 70. feiern und dieses Fest scheint bis heute anzudauern, wenn er sich nicht nur in seinem „New York Trio“ (Martin Wind, b; Tony Jefferson, dr) der Gentleman-Eleganz des Boppigen verschreibt, sondern auch alten Gefährten widmet. Für JazzBaltica ist das eine Sternstunde, weil keine Geringeren als die Hard Bop-Veteranen Cedar Walton und Benny Golson mitmischen. Mit Golson am Tenorsax tun sich vergangene Welten unverblichen farbecht auf. Aber mehr noch fasziniert der „Piano Summit“ zwischen Friedman und Walton: Welten treffen aufeinander, grüblerische Tastenakrobatik versus unfehlbares Bop-Papsttum. Protestantisch gegen katholisch in einer Ökumene, die zeigt, dass gerade „on piano“ Gegensätze sich dialektisch auf einer höheren Stufe vereinen. (jm)