Mins Minssen
Über Film und seinen Umgang mit den Dingen der Umgebung
„Der finstere Mann im langen Mantel ist der Essayist Frowstilly („Über den Umgang mit Umgebung und andere Versuche”). Er friert immer und hat damit ziemlichen Erfolg.“ So steht es in Edward Gorey’s Bildergeschichte „Eine Harfe ohne Saiten oder wie man Romane schreibt“ (Zürich, Diogenes; 1963). Den Band schenkte mir eine befreundete Buchhändlerin und korrigierte damit nebenbei meinen Irrtum, den Amerikaner Gorey wegen seiner kauzig-unheimlichen viktorianischen Szenen für einen Landsmann Alfred Hitchcock’s gehalten zu haben. Tatsächlich verbreiten Gorey’s düster gestrichelte Zeichnungen die Atmosphären britischer Murder Mysteries, in denen es die Opfer aus Stilgründen ablehnen, sich beim Sterben zuschauen zu lassen. Erst danach erhascht man einen Blick in einen schlecht ausgeleuchteten Hintergrund hinein, in dem ein blank geputzter Schuh an einem unnatürlich steifen Fuß über den Rand einer Ottomane ragt.
Mr. Frowstilly’s Titel erscheint mir als unübertrefflich, und ich habe ihn mir ausgeborgt für einige theoretische und zwei bescheidene praktische Versuche über den unverhofften Einbruch von Elementen der Wirklichkeit in die Ideenwelt von Drehbüchern und in die Dreharbeiten selbst. Normalerweise stört Wirklichkeit beim Filmen und wird mit Hilfe von rotweißen Flatterbändern und wichtigtuerischen Hilfskräften ausgeschlossen. Mir passierte es auf dem Düsseldorfer Bahnhofsvorplatz, als Störung gestoppt zu werden. Ich war in Kleve mit dem leibhaftigen Essayisten Jürgen Dahl verabredet, der mich dort auf dem Bahnsteig abholen wollte. Dazu musste pünktlich der Zug in Düsseldorf erreicht werden. Vor dem Bahnhof aber wurde gefilmt, mitten in der Rushhour, und alles drumherum hatte zur Erstarrung zu kommen, wie im Märchen von Dornröschen. Da standen die Straßenbahnen stille und bimmelten nicht. Die Autos warteten gehorsam an grünen Ampeln, nur mein Zug würde wohl nicht warten, und vor mir baute sich ein hünenhafter Wächter mit schwarzer Sonnenbrille, Goldkettchen und Motorradjacke auf, dem das ganz egal war. Nach einiger Weile wurde auf dem Bahnhofsvorplatz eine Feuerwerksexplosion veranstaltet, ein Auto raste davon, und der Berufsverkehr durfte seine Hektik wieder aufnehmen.
Filmer dürfen alles. Wenn Sie mal in Ruhe den Düsseldorfer Hauptbahnhof sprengen wollen, sagen Sie, Sie seien vom Film. Ich weiß, wovon ich rede. Als Mitglied so genannter Location Tours (unverbindliche Bereisung möglicher Drehorte durch Interessenten im allerweitesten Sinne) war ich schon im Herzen eines U-Boot-Stützpunktes und habe in einer Bundesgrenzschutz-Kaserne einer drahtigen Beamtin beim reaktionsschnellen Schießen auf einen plötzlich eingeblendeten Video-Bösewicht zuschauen dürfen, beide Male, ohne einen Ausweis zeigen oder meinen Namen sagen zu müssen. Einem Gerücht nach soll sich dermaleinst ein früherer Generalbundesanwalt zur Sicherheit seines Lebensabends eine Wohnung auf einem Kasernengelände genommen haben. Das ist für die Katz, wenn der rachsüchtige Terrorist in einem freundlich am Schlagbaum durchgewunkenen Location-Tour-Bus kommt. Dies nebenbei zur Beschlagnahme der Wirklichkeit mit Mitteln des Filmgeschäfts. Im Folgenden handelt es sich jedoch um das Nachgeben von Spielfilmen gegenüber den Dingen und Erscheinungen der Wirklichkeit. Inszenierung von Wirklichkeit in Dokumentarfilmen wäre ein ganz anderes Thema.
Was mit Nachgeben gemeint ist, erläutere ich zunächst an einem Beispiel aus dem Film „American Beauty“ von Sam Mendes (1999). Bei Dreharbeiten weht bei einer der Einstellungen der Wind eine unvorhergesehene Plastiktüte ins Bild. Der Filmer bricht die Aufnahme nicht ab, sondern gibt dem Kameramann ein Zeichen, eine ganze Weile lang der Pirouetten drehenden Plastiktüte mit der Kamera zu folgen.
Jeder hat schon erlebt, welch eigenartiges Leben Dinge entfalten, wenn sie sich im Wind bewegen. Im letzten Herbst sah ich von meinem Fenster aus zwei großformatige Zeitungsblätter auf der Straße und dem angrenzenden weiten Bürgersteig umeinander fliegen. Mit zoologischen Begriffen hätte man das mühelos als Paarungstanz beschreiben können: Er verfolgt, sie flieht. Er hält an, sie wartet ab. Er zieht sich zurück. Nun folgt sie zögernd ihm. Schließlich bleiben sie erschöpft nebeneinander liegen.
Als einmal – das ist viele Jahre her – an einer Hamburger Kunsthochschule ein Fest zu Ende ging, sah ich, wie sich in einem langen Flur aus der Dekoration ein gelber Luftballon löste, über den Boden stromerte, in alle Türöffnungen hineinschnupperte und sich wieder zurückzog. Hier war keine Kamera dabei.
An die Haupthandlung des Films „American Beauty“ erinnern sich die meisten Besucher heute nur mit Mühe: „Gab es da nicht einen gesetzten Mann, der sich nun doch den roten Sportwagen kaufte, und kam nicht ein hübsches Schulmädchen ins Haus? Na, jedenfalls war das doch der Film mit der hüpfenden Plastiktüte!“ Drehbücher für Spielfilme sollten, finde ich, für Regisseur und Kameramann den Rat enthalten: „Achten Sie auf das Leben unscheinbarer Dinge und auf Störfälle, und nehmen Sie unvorhergesehene Ereignisse erst einmal in Ihre Handlung oder eine Parallelhandlung auf. Schneiden kann man später immer noch.“
Aus scheinbaren Störfaktoren – Dingen, Tieren, Menschen – werden Mitspieler. In „Drei Farben: Weiß“ (Buch und Regie: Krzystow Kieslowski, 1993) bläst ein polnischer Musiker in der Pariser U-Bahn auf dem Kamm, um sich ein paar Münzen zu verdienen. Ein mysteriöser Mann – so die Charakterisierung durch das Drehbuch – nähert sich dem Musiker und spricht ihn an. Die Kamera läuft, der Geheimnisvolle, auch er Pole, setzt sich zu dem heruntergekommenen Landsmann. Da flattert herbei eine weiße Taube, die sich in der Metro verirrt hat oder dort ihr Auskommen findet und setzt sich auf das Knie des Geheimnisvollen. Die Kamera läuft weiter, auch der Schauspieler erschrickt nicht, sondern streichelt wie gedankenverloren und selbstverständlich das symbolträchtige Tier, das ihm, passend zu seiner Rolle, die Aura eines Schutzengels verleiht. Kieslowski, in Interviews betonend, das ihn eigentlich nur die Wandlungsfähigkeit des menschlichen Gesichts interessiere, erkennt den geschenkten Augenblick und nimmt ihn in den Film auf.
Den inspirierenden Einfluss durch Dinge und Ereignisse der Umgebung findet man nicht nur bei großen Beispielen der Filmproduktion, sondern vor allem, wenn man selber filmt, in wie bescheidenem Rahmen auch immer: Ich war am Entwurf und der Durchführung eines Projekts beteiligt, dem wir den Titel „Das Flüchtige“ gegeben hatten und das auf der Hallig Langeneß stattfand. Der Verlauf des mehrtägigen Ereignisses sollte auf verschiedene Weise von Kunststudenten dokumentiert werden, unter anderem mit Filmkameras. Die Studenten hatten sich mit Digital-Filmkameras versorgt. Ich stellte zusätzlich eine alte Super-8-Schmalfilmkamera mit zwei Aufnahmekassetten zur Verfügung. Der Schmalfilm läuft langsamer als das Digitalband, und der Transportmechanismus ist ruckeliger. Durch beides kommt eine besondere Art der Bewegung ins Bild. Mehr Unruhe, sagen die einen, mehr Lebendigkeit, die anderen. Unter den Teilnehmern und Beiträgern des Projekts war ein Journalist, der diese Art des Filmens dann zum Ausgangspunkt einer umfänglichen Reportage machte über die Faszination, die das völlig überholte Medium auf einige Leute, liebenswerte altmodische Käuze darunter, aber auch flotte Kommunikationsdesigner, immer noch oder schon wieder ausübt (Ulrich Stock: Film ohne Ende. Die Zeit, 25.7.2002, Nr. 31, S. 44).
Der Studentin, auch vom Fach Kommunikationsdesign, aber war die Sache zunächst völlig fremd. Sie versuchte, mit der unzeitgemäßen Kamera eine Diskussion zu filmen, unter den Gesichtspunkten von Flucht und Bewegung ein denkbar statisches und wenig ergiebiges Sujet. Zudem reichen die teuer gewordenen Standard-Super-8-Kassetten nur für eine Aufnahmezeit von drei Minuten, während man mit dem billigeren Digital-Videoband eine Stunde lang filmen kann. Die Diskussion hatte noch kaum richtig begonnen, als der Film schon abgespult war. Die Studentin starrte fassungslos auf die Kamera in ihren Händen, entgeistert von der Dienstunwilligkeit des tückischen Objekts.
Nun war nur noch eine Schmalfilmkassette übrig. Nachdem der Studentin klar geworden war, was man mit diesem Medium nicht machen konnte, konzentrierte sie sich mit dem zweiten Film auf ein geeignetes Thema, nämlich Unruhe. Sie filmte kurze Sequenzen von Wäschestücken, die sich im Nordseewind von der Leine zu reißen drohten, Streifen von Schafwolle, die in der Luft waagerecht abstehend an Zäunen flatterten, Riedgras, das vom Wind in eine bodennahe Schräge gedrückt wurde und immer wieder versuchte sich aufzurichten, Wasser, das sich in schwarzen Fahnen dunkler kleiner Wellen unter einer Bö krauste. Alles sah nicht nur nach Flüchtigkeit, sondern nach einer wilden Rette-sich-wer-kann-Flucht aus. Ich erfand zu den fliehenden Dingen eine Geschichte für ein kleines Drehbuch. Die Handlung geht so: In alten Zeiten gab es noch keinen Wind. Daran erinnern gelegentliche Flauten (im Bild eine still stehende Windmühle). Damals lebten ein Zauberer und sein Gehilfe mit Namen Mörserhand. Der Zauberer wollte ergründen, was die Welt zusammenhält und befahl Mörserhand, alle Dinge zu zerstückeln, zu pulverisieren, zu atomisieren, zu analysieren (im Bild ein Mörser, daneben Millimeterpapier und Schublehre. Eine Hand führt den Stößel, zerreibt Muschelschalen und Grashalme und stampft auf einen kleinen gelben Luftballon ein, bis er platzt). Diese grausamen Versuche sprechen sich herum, Furcht ergreift die Welt, und die Dinge versuchen ihren Peinigern zu entfliehen (Bilder von flatternder Wäsche, Schafwollfäden, Luftballontrauben, Plastikfetzen in Sträuchern und dergleichen). Durch die mannigfachen Fluchtbewegungen entsteht Unruhe in der bis dahin stillen Luft, und so kommt der Wind in die Welt, den Messgeräte beweisen (digitale Aufnahmen – denn das Märchen fällt ins Jetzt – von Anemometern, Luftsäcken und Windgeschwindigkeitsskalen. Super-8-Schmalfilm ist im doppelten Sinne imperfekt: Unvollkommen und „Es war einmal“, Digitalvideo ist Präsenz). Am Ende kündigt der Gehilfe Mörserhand seinen Dienst auf und wendet sich gegen seinen allzu wissbegierigen Herrn und Zauberer und zerreibt ihn zu Knochenmehl. Der Wind aber bleibt in der Welt, macht sich an Windmühlen nützlich und Kindern angenehm, indem er Seifenblasen trägt und an Rohröffnungen und an Drähten Musik macht. Die Schmalfilmsequenzen projizierten wir auf eine Leinwand und filmten sie – um das teure Umkopieren zu vermeiden – digital ab. So konnte die Studentin den Film am Computer schneiden. Für die Tonspur verwendeten wir Musik von meinen Windharfen. Die Erläuterungen wurden wie bei Stummfilmen auf Zwischentiteln gegeben. Der kurze Film (zehn Minuten) kam auf den Nordischen Filmtagen in Lübeck auf die Leinwand und vors Publikum (Maike Koch und M.M.: „Wie der Wind in die Welt kam“). Hätten wir keine Gnade vor den Augen der Jury gefunden, wäre das Projekt dennoch für uns lohnend gewesen, eben unter der filmkritischen Thematik „Vom Umgang mit Umgebung“.
Der Autor: Mins Minssen, geb. 1940, ist Chemiker, Essayist, Jazz-Musiker, Fährmann und hat zwei Kurzfilme gemacht. Er lebt seit 1975 in Kiel.