FilmTrain 2004-2006

Frei-Schwimmer

„Winterschwimmer / Cool Strokes in the Baltic Sea“ (Ulrich Selle, D 2006)

Spätsommers letzte Tage, Herbstes erste Kühle. Das Wasser der Kieler Förde am eigentlich schon geschlossenen Seebad Düsternbrook ist kalt, kältereizend für die unermüdlichen Bader, denen die Seebad-Betreiber einen extra Schlüssel geben, damit sie weiter den Förde-Fluten frönen können.

Etwas mehr als eine Handvoll sind es, die auch im Winter das eiskalte Nass nicht meiden, die daraus etwas Transzendentes, Befreiendes beziehen … die Ulrich Selle in seiner Dokumentation „Winterschwimmer“ beim Schwimmen beobachtet und danach darüber vor der Kamera hat sinnieren lassen. Manfred Holzhüter zum Beispiel, Ex-Seemann, der kommt jeden Tag gleich dreimal aus Kiel-Gaarden geradelt um selbst bei Eisgang ins Wasser zu springen. Ob das gesund ist, bei knapp über Null Grad Wassertemperatur zu baden, darüber zerbricht sich die medizinische Wissenschaft noch die heißen Köpfe, weiß einer von Holzhüters Winterschwimmer-Kollegen. Fakt ist, ihm tut es gut, Wissenschaft hin oder her.

Nicht nur ihm. Die Winterschwimmer bilden eine kleine verschworene Gemeinschaft von „Extremsportlern“, die so extrem nicht sind. Ganz normale Menschen, die eine Leidenschaft entdeckt haben, die aus Leiden Lebensfreude schafft. Da ist die Schwimmerin, die das Bad am kalten Morgen als Erleuchtung empfindet. Und das alte vertraute Ehepaar, das den Schwimmakt mit dem Kamillentee danach zum Ritual gemacht hat. Geradezu rührend zuzuschauen, wie der nicht badende Mann seiner Frau jeden Morgen den Tee danach kredenzt, wenn sie beide dem Aufgehen der Sonne zuschauen. Ein Paar, das in sich und miteinander ruht in einer Extremsituation für den schwimmenden Körper, vorallem aber seine Seele.

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Man kann sich ungefähr vorstellen, was dabei heraus gekommen wäre, wenn RTL, SAT.1 oder all die anderen Doku-Soaper dieses Thema für eine ihrer „Realitys“ entdeckt hätten: etwas Reißerisch-Abstruses, die Ausstellung des Abseitigen zum schadenfrohen Grusel eines sensationsgierig abgestumpften TV-Publikums. Ulrich Selle geht den anderen Weg. Er sucht nicht nach Sensation, selbst wenn die nackten Füße der Winterschwimmer sich in Großaufnahme über Eiskrusten ins eiskalte Nass tasten. Es ist das leise Erzählen, das Unspektakuläre im Spektakulären, das diesem poetischen Film eine Nahrung gibt, die aus den Gefühlen seiner Protagonisten gespeist ist. Und so „esoterisch“ verbrämt die zuweilen anmuten mögen, so authentisch lebendig sind doch die Stimmen derer, die sich diesem eiswässrigen Extrem aussetzen.

Die Nacktheit, mit der die Winterschwimmer in die Wellen tauchen, ist dabei ein Symbol für eine zutiefst ursprüngliche menschliche Lebendigkeit. Das Leben blüht und knospet hier, mitten im Winter, zwischen Eis so warm, so frühlingshaft. Ein Film der sogar mit Unterwasserkamera seinen Protagonisten durch die Jahreszeiten in eine Sphäre folgt, die bei allem pittoresk Abseitigen doch etwas zutiefst Menschliches entdeckt: den unbändigen Wunsch sich frei zu schwimmen. (jm)

Winterschwimmer / Cool Strokes in the Baltic Sea, D 2006, Betacam SP, 29 Min. Regie/Kamera: Ulrich Selle, Ton: Elisabeth Saggau, Moses Merkle, Unterwasserteam: Daniel Krönke, Ulrich Selle, Schnitt: Ulrich Selle, Schnittberatung: Margot Neubert-Maric, Claudia Willke, Produktionsberatung: Bernd-Günther Nahm, Trailergestaltung: Lorenz Müller, Ulrich Selle (Trailer unter http://rzglab15.rz.uni-kiel.de/geotv/filmtrain/winter.wmv), Tonmischung: Nikolai Kasüske.

Kiel-Premiere am 22. April, 18.30 Uhr im Kieler KoKi, u.a. mit Protagonisten und dem Tangoensemble „Tangoneon“.

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