56. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2006

Psychogramm eines religiösen Wahns

„Requiem“ (Hans-Christian Schmid, D 2006)

Nach der humoristischen Betrachtung in „Nach fünf im Urwald“ und versteckt als Erzähl-Nebenstrang in „23“ konzentriert sich Schmids auf der Berlinale als letzter von vier deutschen Wettbewerbsbeiträgen aufgeführter Film „Requiem“ wieder auf die Folgen elterlicher Übervormundung gepaart mit religiösem Eifer. Im Vorspann wird bereits darauf hingewiesen, dass der Film auf einer tatsächlichen Begebenheit Anfang der 70er Jahre beruht, die Figuren und die Geschichte aber frei erfunden sind. Damit machen sich Regisseur Hans-Christian Schmid und Autor Bernd Lange von den Fesseln der Authentizität frei, verweisen aber gleichzeitig auf die Wirklichkeitsnähe ihrer Studie.

Die 21-jährige Michaela (Sandra Hüller) bekommt die Zulassung zum Pädagogik-Studium in Tübingen. Vater Karl freut sich mit der Tochter, doch Mutter Marianne möchte die Tochter nicht aus dem Haus lassen. Die Epilepsie-Anfälle, die Michaela zusätzliche Schuljahre gekostet haben, benutzt die Mutter als Rechtfertigung, die Tochter weiter im streng katholischen Elternhaus zu halten. Doch Michaela setzt sich mit Hilfe des Vaters durch und beginnt ihr Studium. Schnell findet sie in ihrer einstigen Schulkameradin Hannah eine Freundin und in Stefan ihren ersten Geliebten. Sie genießt die Befreiung aus der kleinbürgerlichen Enge. Als sie im Studentenwohnheim einen epileptischen Anfall erleidet, kann sie Hannah ihre Krankengeschichte nicht länger verschweigen. Auf einer Pilgerfahrt erleidet sie einen weiteren Anfall, doch diesmal wird er von Visionen begleitet. Als Micheala Rat beim Dorfpfarrer sucht, rät der zu einem Psychiater und weist übersinnliche Erklärungen zurück. Michaela allerdings glaubt bereits an eine Besessenheit. Wenig später stellt der Pfarrer ihr einen jungen Kollegen vor, der sie zunächst mit einem langen, ausschließlich um eine spirituelle Lösung bemühten Gespräch beruhigen kann. Doch Michaelas psychische Verfassung verschlechtert sich zusehends. Als die Anfälle häufiger und heftiger werden, fährt Stefan Michaela statt in die Klinik zum Elternhaus. Die Eltern greifen auf die Hilfe des jungen Pfarrers zurück, der einen Exorzismus vornimmt. Hannah unternimmt einen letzten Versuch, Michaela zu überzeugen, dass Elternhaus zu verlassen. Doch Michaela glaubt fest daran, dass der Exorzismus ihre Dämone austreibt.

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Eher Generationen- als Glaubenskonflikt: Sandra Hüller in „Requiem“ (Foto: Berlinale)

Ein hervorragendes Ensemble erweckt die Figuren zum Leben, schmerzhaft werden eigene Auseinandersetzungen mit den Eltern ins Gedächtnis gerufen. Burkhardt Klaußner gibt einen Vater, der aus seiner eigenen Ehe nicht fliehen kann und seiner Tochter die Flucht aus dem Elternhaus umso mehr ermöglichen möchte. Ein schönes Detail, dass er ein Hörgerät trägt, weil er vielleicht die herausgepeitschten Vorwürfe seiner Frau nicht mehr hören kann oder will. Imogen Kogge gibt eine unglaublich intensive Mutterfigur, die ihre Tochter mit einer Mischung aus Frömmigkeit, spießbürgerlicher Moral und einengender Sorge in einem unsichtbaren Gefängnis hält, aus dem es für Michaela kein Entkommen geben wird. Imogen Kogge meistert die schwere Aufgabe, die hauptsächliche Ursache für Michaelas „Dämonen“ zu personifizieren, in nur wenigen Szenen mit sparsamstem Dialog. Sie entwirft ihre Marianne Klinger trotzdem nicht als hassenswertes Zerrbild sondern als plausiblen Charakter. Sandra Hüller ist sicher die Berlinale-Entdeckung für den deutschen Film. Die Intensität mit der sie die Steigerung vom zunächst stillen Leiden und religiöser Ereiferung über die bewusste Rebellion gegen das Elternhaus bis hin zu den epileptischen Anfällen und religiösen Wahnvorstellungen spielt, ist überwältigend.

„Requiem“ ist in allen Bereichen von Erfahrung und Qualität bestimmt. Die Story hat keine Hänger, lässt allen Figuren Raum, sich in einer ausreichenden Tiefe zu entwickeln. Der Höhepunkt des Familienkonflikts ist das Weihnachtsfest, an dem die Tochter mit neuem Selbstbewusstsein ins Elternhaus zurückkehrt, nur um von ihrer abweisenden Mutter noch tiefer in den Wahn gestoßen zu werden. Da serviert Lange solche Zeilen der Mutter wie „Du bist und bleibst eine Klingler“ oder „Du läufst mir nicht wie ein Flüchtlingskind rum“ oder die Beschwichtigung des Vaters „Jetzt ist gut! Nicht an Weihnachten!“ Das sind Sätze, die manchem deutschen Zuschauer nicht so unbekannt vorkommen werden und das Verhältnis ganzer Generationen definieren. Schmid inszeniert dieses Buch meisterhaft, holt auch aus einfachen Bildern wie der auf ihrer ersten Studentenfete tanzenden Michaela viel Vorahnung heraus. Wenn er den Film mit Michaela und Hannah auf einem Hügel mit Blick auf bestelltes Land und Michaelas bekundeter Hingabe an die Teufelsaustreibung enden lässt, dann ist das stärker und poetischer, als Michaelas Tod in Bildern zu schildern.

Schmid gelingt eine glaubwürdige und mitreißende Studie über eine sensible junge Frau, die zu spät aus der beklemmenden Enge ihres Elternhauses entkommen kann. Die katholisch geprägte religiöse Fixierung seiner Heldin ist dabei wahrscheinlich kein Verweis auf die zunehmenden globalen „Glaubenskriege“. Vielmehr betrachten Schmid und Lange den Generationenkonflikt der von Angst und Sicherheitsdenken geprägten Kriegsgeneration und ihrer Kinder. „Requiem“ gemahnt aber auch daran, dass selbst Eltern und engste Freunde hilflos sind, wenn es um Heilung einer psychischen Krankheit geht. „Requiem“ ist einer von drei (ausgenommen der wenig überzeugende „Elementarteilchen“) starken deutschen Beiträgen im Wettbewerb dieser Berlinale. (dakro)

Requiem, D 2006, 93 Min., 35 mm. Buch: Bernd Lange, Regie: Hans-Christian Schmid, Darsteller: Sandra Hüller, Burkhardt Klaußner, Imogen Kogge u.a.

 

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