56. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2006

Mein fremdes Land

„My Country, My Country“ (Laura Poitras, USA 2006) und „Aus der Ferne“ (Thomas Arslan, D 2006)

Zwei islamische Länder, zwei Reflexe auf politisch aufgeregte und persönlich erinnerte, unaufgeregte Landschaften und Menschen. Das Forum der Berlinale bietet immer wieder Blicke auf fremde Länder, die den eigenen, europäisch-abendländisch geprägten Horizont erweitern.

Unter dem Titel „My Country, My Country“, der an den patriotischen und oft missbrauchten Spruch „It may be wrong, but it’s my country“ erinnert, berichtet Laura Poitras über den irakischen Arzt Dr. Riyadh, der in den Auseinandersetzungen um die ersten freien Wahlen im Irak zwischen die Fronten aus religiöser Überzeugung und der Demokratie nach westlichem Vorbild gerät. Riyadh ist frommer Sunnit und gehört somit einer Glaubensgemeinschaft an, die auch im „befreiten“ Irak unter der Knute der Mehrheit der Shiiten steht. Neben seinem unermüdlichen Engagement als Mediziner kandidiert er auch für die Islamic Party der Sunniten – ein nicht nur wegen der absehbaren Mehrheitsverhältnisse schwieriges Unterfangen. Gleich zu Beginn der Dokumentation erfahren Riyadh und die Zuschauer von Attentaten, die die rivalisierenden Glaubensgruppen auf politische Vertreter der jeweils anderen Couleur verüben. Und von den übernervösen Reaktionen der amerikanischen Besatzer, bei denen die MG manchmal einen lockereren Abzug hat als der abwägende Verstand. Die Demokratie in einem Land zu installieren, das nach der Befreiung von seinem Diktator in ein beinahe noch größeres Chaos gestürzt wurde, ist eben nicht leicht.

Zumal wenn Riyadhs Familie die Sache „revolutionärer“ sieht als ihr Oberhaupt. Für seine Töchter etwa, die als Frauen das erste Mal Wahlrecht haben, ist klar, dass sie nicht wählen, denn dies ist von vornherein eine Wahl, bei der nur die Shiiten gewinnen können. Mehr und mehr wird Riyadh zwischen den familiären, politischen und nicht zuletzt den Fronten in seinem eigenen Kopf und gläubigen Herzen zerrieben. Am Ende erreicht seine Islamic Party nur wenige Prozentpunkte. Zurück bleibt ein enttäuschter, aber aufrechter Kämpfer für eine Demokratie, die sich nur mühsam in die Traditionen seines Landes einfügt.

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Zwischen Brückenschlag und Fronten: „My Country, My Country“ (Foto: Berlinale)

Selten hat man so einen intimen Blick auf den Irak in seinem schmerzvollen Prozess um Selbstfindung gesehen. Noch mehr davon wäre sicherlich nützlich für uns Europäer, die bei dem Krieg nur Zaungäste waren, es bei dem Versuch der Demokratisierung des Irak immer noch sind und die auch jetzt kaum verstehen können, wie der Glaube Berge versetzt und daran doch wie Sisyphos scheitert.

Ähnlich intim schaut Thomas Arslan auf das Land seiner türkischen Väter. In seinem ersten abendfüllenden Dokumentarfilm „Aus der Ferne“ begibt er sich auf eine Reise vom europäisch geprägten Westen der Türkei bis in die abgelegenen Provinzen an der Grenze zum Irak. Dass das „eigene“ Land ein fremdes ist, muss dabei auch er erfahren. Die Fremde im eigenen Land schärft jedoch den dokumentarischen Blick. Selten ist Arslan, der auch die Kamera führte, in die Szenen von Märkten und Menschen involviert. Er ist Beobachter, abgetrennt von den eigenen Wurzeln und dabei ebenso diese wiedererkennend wie sie abständig bestaunend. Aus diesem ambivalenten Verhältnis gewinnt der durchweg ruhig erzählte, sich auf wenige Kommentare beschränkende Film seine Dynamik. Arslans Blick auf sein Land ist der eines forschenden Fremden, mit allem Schmerz, der sich dabei über eine verlorene Heimat auftut. Das Elternhaus nahe dem Atatürk-Mausoleum in Ankara, der Fleischmarkt mit dem Rohen des Lebendigen … als würde jemand auf ein längst vergangenes Leben zurückschauen, auch durchaus misstrauisch den eigenen filmischen Emotionen gegenüber.

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Filmgemälde aus der Fremde: „Aus der Ferne“ (Foto: Berlinale)

Ein Film der in seinem Findungsprozess anstrengend und manchmal auch langweilig träge ist, aber auch erhellend. Europa ist nicht weit – das Abendland, das wie vor Jahrhunderten vom fremden Morgenland so manches lernen könnte. (gls)

My Country, My Country, USA 2006, 90 Min., HD-DV. Regie: Laura Poitras.

Aus der Ferne, D 2006, 89 Min., 35 mm. Regie: Thomas Arslan.

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