56. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2006

Kunst als Krimi

„Wholetrain“ (Florian Gaag, D 2005)

Ein „Jungsfilm“, in dem dieselben nicht wie in den nachrevolutionär züchtig, kleinbürgerlich, pseudo-wild geworden, popgearteten 70ern mit Märklin-Eisenbahnen spielen, sondern echte Züge bemalen und ganz in echt und „voll geflasht“ ums Leben kommen. Autor und Regisseur Florian Gaag gehörte selbst jahrelang der Münchner Graffiti-Szene an, bevor er das Medium wechselte, Film studierte und nun mit seinem Spielfilmdebüt trefflich die Leinwand besprüht – inklusive kongenialem Hiphop-Soundtrack, für den er auch verantwortlich zeichnet.

Kein Wunder also, dass Gaags Spielfilm in vielem wie ein Dokudrama wirkt: Einblicke ins innerste Innere der Sprayer-Szene, ihrer Antriebe, ihrer Ästhetik, ihrer süchtigen, nicht davon lassen könnenden Lebensentwürfe mit den „Big Caps“ der Sprühüberdosis. Kunst kommt vom Rand, vor allem wenn sie innovativ und ein „Battle“, ein Wettstreit um die Meriten der Besten unter den Besten ist. Fast wie ein Sport, aber so notwendig ihre Urheber verzehrend, wie wahre Kunst eben ist und immer war. David (Mike Adler) ist der Mastermind der Sprayer-Posse „KBS“, ein Pädagoge des Graffitis als ernst zu nehmende Kunst, der seinen „Schüler“ Achim (Jacob Matschenz) mutprobend, wie taffe Jungs das tun, in die Posse integrieren will. Großes Projekt: Nicht nur einen U-Bahn-Wagen besprühen, sondern einen ganzen Zug, einen „Wholetrain“. Dafür bedarf es einiger kriminalisierter künstlerischer Energie und der ganzen pubertierenden Manneskraft. Zumal die Rivalen der anderen Sprayer-Gang schon mal mit kräftigem Sprühstrich vorgelegt haben. Das Duell mit der „Can“ ist vorprogrammiert und wird von Gaag mit wackelnder Doku-Cam inszeniert. Problem: David ist bei der Soko Grafitti längst aktenkundig und auf Bewährung. Noch ein Spray und er wandert in den Jugendknast. Ein Kick, der die Kunst noch einmal beflügelt. Wie Tino (Florian Renner), den Kindsvater wider Willen und Davids Busenfreund. Sein unbändiger Sprüh-Wille kostet ihn am Ende das Leben, auf der Flucht vor den „Bullen“ rennt er vor ein Auto. Was die Sprayer stoppt, nur David nicht, der seinem verunglückten Freund Epitaphe auf die Fassaden sprüht …

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Es muss der ganze Zug sein: „Wholetrain“ (Foto: Berlinale)

Gaags Film ist gleichzeitig hochgespannter und atemlos gefilmter Krimi wie ein ganz und gar parteiisches Plädoyer für eine Kunst, die unmittelbar nach dem (eigenen) Leben trachtet und in den bürgergesellschaftlichen Gerichtsakten dennoch nur als „Sachbeschädigung“ Niederschlag findet. Der ewige Kampf mit ihren Widersachern, beamteten „Schadensbekämpfern“, gibt der Kunst erst den eigentlichen Kick. Wenn Davids Bewährungshelfer ihm empfiehlt, seine Arbeiten einem Kunstprofessor vorzustellen, und der dann mit dem ganzen „uncoolen“ Vokabular etablierter Kunstkritik jene lobt, während David ihm angewidert den Rücken kehrt, wird deutlich, dass solche Kunst nicht für den Sarg des Museums taugt und nicht ohne die Gefahr des Krimis auskommen kann. Ein Film über die Vergänglichkeit von Kunst auf verbotenen Leinwänden und über die Kunst an sich als nicht ewige, sondern dem Leben und darin Ableben verhaftete. Groß! (jm)

Wholetrain, D 2005, 83 Min., 35 mm. Buch, Regie, Musik: Florian Gaag, Darsteller: Mike Adler, Florian Renner, Elyas M’Barek, Jacob Matschenz u.a.

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