56. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2006

Geschichten von Sandra und Lilly

„Fyra Veckor i Juni / Vier Wochen im Juni“ (Henry Meyer, Schweden 2005)

Das Schöne an Jugendfilm-Reihen wie 14plus ist, dass die darin laufenden Filme oftmals solche sind, die den Blick öffnen für eine offen-positive Perspektive, ohne dass die geschilderten komplexen Verflechtungen und Probleme hinweggefegt werden. Sie sind oft hoffnungsvoller als die reinen „Erwachsenenfilme“ und decken dabei ein Altersspektrum ab, das Jugendliche wie auch Erwachsene umfasst.

Die siebenköpfige Jugendjury hat sich auf der Berlinale 2006 unter neun Filmen für ein Werk aus Schweden als Sieger und Träger des Gläsernen Bären entschieden: Henry Meyers „Vier Wochen im Juni“. „Die humorvolle und zugleich berührende Geschichte einer Beziehung zwischen Jung und Alt hat uns überzeugt und nachdenklich gestimmt. Das Aufeinandertreffen von Zukunft und Vergangenheit verkörpern in diesem Film zwei hervorragende Schauspieler in wundervollen Dialogen.“

Jung und Alt, das sind in diesem Film Sandra und Lilly. Sandra, kaum 20, hat sich durch einen gewalttätigen Racheakt an ihrem Ex-Freund eine Jugendstrafe eingehandelt, muss deshalb bei den „Ameisen“ („Myrorna“) in einer gesichtslosen Hafenstadt im nördlicheren Schweden Kleider sortieren und wird in eine Mini-Wohnung in einem Sozialmietwohnungskomplex einquartiert. Dass dieser gerade mit viel Krach und anderen für die verbliebenen Bewohner störenden Einschränkungen saniert wird, nervt Sandra genauso wie die alte Dame, die zwei Stockwerke über ihr wohnt. Letzteres nur aus Altersstarrsinn: Lilly will partout nicht aus der Wohnung weg, obwohl ihr Kreislauf nicht mehr der verlässlichste ist und ihre Tochter Rebekka ihr lieber heute als morgen einen Platz im Altersheim besorgen würde. Obwohl sie sich anfangs keineswegs freundlich begegnen, wächst die Sympathie zwischen den Frauen, die beide ihre Erfahrungen mit den schweren Seiten von Leben und Liebe gemacht haben. Und beide haben ihre Geheimnisse …

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Tova Novotny (l.) und Ghita Nørby in „Vier Wochen im Juni“ (Foto: Berlinale)

Der Film enthält viele Problemmarken: Sandras Heimkind-Biografie, Lillys Lebenslüge, das komplizierte Verhältnis zur eigenen Tochter, die Ausbeutung der Schwarzarbeiter aus Polen, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, sogar eine Vergewaltigung. Andererseits fasst er viel Hoffnung für eine wenn auch ungewisse Zukunft. Und zeigt Sinn für Humor.

Henry Meyer, der 1947 geborene Regisseur, hat ein wundervolles Drehbuch verfasst, das nicht redselig daher kommt, auch wenn viel erzählt wird, das zwei Sprachen einplant, das Schwedische und auch das Englische, das Sandra und der junge Marek, der sich in sie verliebt, miteinander sprechen. Unangestrengt gelingt es Meyer, die Problematik von Vertreibung und Migration, ob aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen, mitschwingen zu lassen.

Sandra und Lilly – man kann ins Schwärmen geraten dank der großartigen Verkörperung durch Tuva Novotny und Ghita Nørby. Die 26-jährige Tuva Notvotny sieht mit Unmengen von Lidschatten, Topps und String-Tangas tatsächlich einige Jahre jünger aus, während es Ghita Nørby, eine Grande Dame des nordischen Films, zwar zu einer verhuschten Erscheinung als Lilly unfrisiert im Morgenmantel, aber kaum zu einer 80-jährig aussehenden 80-Jährigen bringt. In etwa so alt müsste Lilly sein, deren Geschichte man nebenbei erfährt: Sie wurde von ihren deutsch-jüdischen Eltern als Kind nach Dänemark zu Pflegeeltern geschickt und so vor dem sicheren Tod gerettet. Allenfalls hier klingt Melodramatik an, indem der Film ausgerechnet die Inbegriffe schlimmer Jugendschicksale parallel setzt: das Heimkind Sandra und Lilly, die dem Nazi-Terror knapp entging.

„Fyra Veckor i Juni“ lief in Schweden im August 2005 an, wurde vom Publikum allerdings nur mittelmäßig angenommen. Ghita Nørby („Babettes Fest“ 1987, „Hamsun“ 1996) erhielt Ende Januar 2006 den schwedischen Filmpreis „Guldbagge“ als beste Nebendarstellerin. Und Tuva Novotny, die als Schauspielerin international tätig ist – sie war auf der Berlinale 2006 ebenfalls in der Sektion Panorama im neuseeländischen Spielfilm „No. 2“ zu sehen – ist gerade nach Kopenhagen gezogen, um sich zumindest dem schwedischen Starrummel zu entziehen.

Ob es der schwedische Film in die deutschen Kinos schafft? Vielleicht, wo doch Kino-Kassenschlager wie „Wie im Himmel“ (Kaj Pollack, 2004) auch hierzulande erfolgreich waren und nach „Populärmusik aus Vittula“ (Reza Bagher, 2004) sogar noch „Zurück nach Dalarna“ (Maria Blom 2004) im deutschen Verleih folgte. Doch „Vier Wochen im Juni“ ist weder schwülstiges Gefühlskino, noch nordisch-skurril – das macht ihn im Verleih vielleicht weniger gut absetzbar, aber unbedingt sehenswert. (gls)

Fyra Veckor i Juni, Schweden 2005, 116 Min, 35 mm. Buch, Regie: Henry Meyer, Darsteller: Tuva Novotny, Ghita Nørby, Lukasz Garlicki, Jessica Zandén, Sissela Kyle.

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