56. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2006

Gelungener Kraftakt

„Der freie Wille“ (Matthias Glasner, D 2006)

Die zweite Einstellung ist schon eine Warnung. Die Kamera nur wenige Zentimeter von Jürgen Vogels Gesicht entfernt signalisiert zweierlei: In diesem Mann gärt es unter der Oberfläche; und wir gehen ganz nah ran. 163 Minuten verfolgt „Der freie Wille“ den Weg des Serienvergewaltigers Theo. Man wird Zeuge eines filmischen und insbesondere darstellerischen Kraftaktes, der auch dem Zuschauer einiges abverlangt und ihn verstört zurück lässt. Matthias Glasners Film bietet Angriffsfläche, die in den ersten Kritiken nach der Premiere auf der Berlinale auch genutzt wurde. Doch Glasner und Hauptdarsteller sowie Co-Autor und Co-Produzent Vogel haben nicht auf den Skandal spekuliert, sondern im Bemühen um einen kompromisslosen Film über zwei Menschen, die mit ihren Dämonen und dem freien Willen um ein Stück selbstbestimmtes Leben und Glück kämpfen, einen kraftvollen, überaus diskussionswerten Film geschaffen.

Schon mit den ersten Szenen stellt Glasner klar, dass er keine Entschuldigung für die Taten von Theo bieten wird. Nach einem Wutausbruch bei der Arbeit rast Theo mit dem Auto davon und verfolgt eine Fahrradfahrerin, die ihm zufällig als erste begegnet. In schmerzhaft langen Einstellungen wird die Vergewaltigung bebildert. Theo reißt die junge Frau vom Fahrrad, zerrt sie an den Haaren zum Strand und prügelt auf sie ein, bis sie sich nicht mehr gegen ihn wehrt. Die Vergewaltigung und den anschließende Fluchtversuch inszeniert Glasner (mit einer ausgesprochen mutigen Partnerin für Jürgen Vogel) in Echtzeit ohne einmal den Blick abzuwenden. Er stellt sicher, dass wir bei aller Annäherung an die Figur des Theo nicht vergessen, dass er nach dieser dritten Vergewaltigung zu Recht zu neun Jahren Maßregelvollzug verurteilt wurde und auch nach der Entlassung als „Geheilter“ eine Gefahr für seine Umgebung bleibt.

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Auch als „Geheilter“ eine Gefahr: Jürgen Vogel als Serienvergewaltiger Theo (Foto: Berlinale)

Theo versucht, alles richtig zu machen. Er fügt sich in die betreute Wohngemeinschaft, ist beim Vorstellungsgespräch für einen Job als Drucker ehrlich und wagt vorsichtige Annäherungsversuche an das andere Geschlecht. Doch schon bald wird deutlich, dass auch Kickboxen und Schwitzen in der Sauna nicht die Aggression und den Trieb in Theo bändigen können. Die Rechnung „gesunder Geist in gesundem Körper“ geht nicht auf. Theo wendet sich an seinen Betreuer, der mit einer Mischung aus überforderter Hilflosigkeit und kumpelhaften Ratschlägen reagiert. Theo begegnet Nettie (Sabine Timoteo), der Tochter seines Chefs, die es mit 27 gerade geschafft hat, sich aus der emotionalen Klammer ihres Vaters zu befreien. Zwischen den beiden entwickelt sich eine zunächst widerstrebende Liason, schließlich ziehen die beiden zusammen und genießen für kurze Zeit ein Ikea-Badewannen-Glück. Doch schon der erste Eifersuchtsanfall lässt Theo die erste Frau vergewaltigen, die ihm einen scheinbaren Anlass gibt. Theo trennt sich von Nettie und verschwindet, nicht ohne ihr vorher die Wahrheit über seine Vergangenheit ins Gesicht zu bellen. Doch auch nach dieser verbalen Vergewaltigung gibt Nettie Theo nicht auf. Sie will ihn verstehen und sucht eines seiner Opfer auf. Ganz unerwartet ergibt sich aus dieser Szene eine Ahnung über die nie endende Angst und Wut der Opfer von Triebtätern. Nettie findet Theo schließlich, der als einzigen Ausweg seinen Freitod sieht.

Jürgen Vogel spielt Theo mit aller Konsequenz und schreckt dabei nicht vor Selbstentblößung zurück, wenn er vor dem Pornofilm masturbierend versucht, seinen Sexualtrieb niederzuringen. Das sehr körperliche Spiel Vogels lässt den Konflikt zwischen rationaler Willensentscheidung und pervertiertem Sexus fast sichtbar werden. Die zerbrechlich wirkende Sabine Timoteo verleiht ihrer Nettie eine innere Stärke, die sie zwar spät, dann aber konsequent aus dem Käfig des väterlichen Haushalts ausbrechen und später glaubhaft an der Liebe zu einem Sexualstraftäter festhalten lässt. Keine einfache Aufgabe, die Timoteo aber mit Bravour löst. Auch Nettie wird um ihre freie Willensentscheidung ringen müssen, wenn sie wider besseren Wissens versucht, Theo zu finden.

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Ringen um den freien Willen: Jürgen Vogel und Sabine Timoteo (Foto: Berlinale)

Wenn es auch Glasner nicht um eine Ausgewogenheit in der Darstellung eines Themas oder die Sicht der Opfer geht, so bringt er zumindest die Folgen von Theos Taten immer wieder in Erinnerung. Glasner wollte aber keinen Film über ein Thema und keinen Problemfilm machen, wie es in seinem Regiestatement heißt, sondern „eine Art Trip, bei dem wir mit zwei Menschen bis zum konsequenten Ende mitgehen. Im Guten wie im Bösen.“ „Der freie Wille“ funktioniert tatsächlich auf drei Ebenen: Als nichts beschönigende Studie eines Sexualtäters, als Liebesgeschichte gegen alle Widerstände und als Reflektion über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines tatsächlich freien Willens. (dakro)

Der freie Wille, D 2006, DV/35mm, Regie & Kameraführung: Matthias Glasner, Buch: Matthias Glasner, Judith Angerbauer, Jürgen Vogel, Darsteller: Jürgen Vogel, Sabine Timoteo, Manfred Zapatka, André Hennicke

 

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