56. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2006

Das Erbe der Diktatur

„Jeder schweigt von etwas anderem“ (Marc Bauder, Dörte Franke, D 2006)

Marc Bauder und Dörte Franke untersuchen in iherm dritten gemeinsamen Dokumentarfilm, co-produziert vom „Kleinen Fernshspiel“ des ZDF, die Spätfolgen der Inhaftierung von Dissidenten in der DDR. Beleuchtet werden weniger die Umstände der Verhaftung oder die Bedingungen der Haft, sondern die Folgen für das Familienleben nach der Entlassung und dem „Freikauf“ durch die BRD. Jede Familie zieht ihre eigenen Konsequenzen aus der Vergangenheit, doch der gemeinsame Nenner ist das Schweigen aus unterschiedlichen Motiven.

Drei Familien werden befragt, die Filmemacher beschränken sich dabei auf aktuelle Interviews und Alltagsbeobachtungen ihrer Protagonisten. Es wird kein Archivmaterial benutzt, lediglich kommt hier und da ein Foto ins Bild, wenn die Befragten in ihren Fotobänden blättern oder die Kamera über die Bilderrahmen an der Wand fährt. Alle Aufmerksamkeit liegt bei den ehemals Inhaftierten, ihren Kindern und Eltern und ihrem jetzigen Leben.

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Schwierige und oft nur schweigende Vergangenheitsbewältigung (Foto: Berlinale)

Anne wurde zu 20 Monaten Haft wegen Verbreitung von „Hetzliteratur“ verurteilt. Ihr knapp ein Jahr alter Sohn kam zu den Großeltern. Nach der Entlassung 1983 kaufte sie die BRD frei. Heute herrscht ein ausgesprochenes Einverständnis in der Familie, dass über die Zeit der Haft nicht gesprochen wird. Der Sohn meldet sich kaum noch bei den Großeltern, Anne selbst hat ein anderes Ventil gefunden. Sie arbeitet als Führerin u.a. durch das Ministerium der Staatssicherheit. Besuchern erklärt sie im Arbeitszimmer Mielkes, dass sie immer noch nicht stark genug ist, um Markus Wolff unter die Augen zu treten. Den „Zersetzungsmaßnahmeplan“ aus ihren eigenen Stasi-Akten benutzt sie als Beispiel für die Arbeitsweise der IM. Als sie in ihren Akten entdeckte, dass der Vater ihrer besten Freundin nicht nur die Jugendfreundinnen, sondern auch die eigene Tochter und die Mutter bespitztelte, fordert sie ihre Freundin auf, ihre eigenen Aketn einzusehen. „Als ich ihr das nächste Mal begegnete, wechselte sie die Straßenseite. Da dachte ich, so war es doch schon einmal …“

Utz wurde mit 25 Jahren zu zwei Jahren Haft verurteilt. Er war in der Schule als Freigeist auffällig geworden, doch erst neun Jahre später schlägt die Stasi zu. Seine beiden Töchter kamen erst in der BRD zur Welt. Während Utz Schulkindern seine Geschichte erzählt, haben die Töchter die Vergangenheit ihres Vaters ausgeblendet. Sie wollten keine alten Wunden aufreißen. Doch als eine seiner Töchter in einem Gedicht ihres Vaters liest, dass er das Schweigen seiner Töchter als einen Versuch des Trostes versteht, bricht sie in Tränen aus.

Tine und Matthias wurden als junges Paar gemeinsam verhaftet. Auch ihre Kinder kommen erst in der Freiheit zur Welt. Matthias arbeitet die Haftzeit in Texten auf, beide konfrontieren die Verhörer und Vollzugsbeamten von damals, sie arbeiten aktiv an der Bewältigung ihrer Traumata. Die Kinder gestehen offen, dass sie sich nicht für die Vergangenheit ihrer Eltern interessieren, ihnen die Schriften ihres Vaters zu düster sind.

Es ist Bauder und Franke anzurechnen, dass sie das sensible Thema nicht mit Emotionen beladen, die nur von den eigentlichen Beobachtungen ablenken: den Spätfolgen der DDR-Diktatur in den heutigen Familienstrukturen. Dabei heben sie sich in ihrer Distanz zu den Protagonisten wohltuend von Produktionen ab, die draufhalten, wenn die Tränen vor Wut oder Trauer fließen. Bei Bauder und Franke folgt in diesen Momenten der Schnitt. Das zeugt auch von gebührendem Respekt vor der Anstrengung, das Schweigen vor der Kamera, die wie ein Katalysator wirkt, doch zu brechen. (dakro)

Jeder schweigt von etwas anderem, D 2006, 72 Min., Digi Beta. Buch, Regie: Marc Bauder, Dörte Franke.

 

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