56. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2006

Amerikanische Dokumentarfilme im Panorama

„Matthew Barney: No Restraint“ (Alison Chernick, USA 2005), „Dave Chappelle’s Block Party“ (Michel Gondry, USA 2005)

Mit sieben Dokumentarfilmen gegenüber drei Spielfilmen setzte die Sektion Panorama dieses Jahr einen Schwerpunkt auf Dokumentarisches bei der Auswahl aus amerikanischen Einreichungen. Praktisch alle Dokumentationen setzen sich mit Kunst und Kultur im weiteren Sinne auseinander, allein vier lassen sich als Künstlerportraits kategorisieren.

Katharina Otto-Bernstein entwirft in „Absolute Wilson“ ein Portrait des Theatermachers und Installationskünstlers Robert Wilson, das zum ersten Mal auch die persönlichen Seiten des Ausnahmekünstlers unter die Lupe nimmt. Ein Tribute Konzert, das zu Ehren von Leonard Cohen im vergangenen Jahr in Sidney veranstaltet wurde, nimmt Lian Lunson in „I’m You Man“ zum Anlass, nicht nur die Auftritte von Nick Cave, Jarvis Cocker, Rufus Wainwright und anderen zu dokumentieren, sondern in Backstage Interviews dem Poeten und Songwriter Cohen seltene Kommentare zu seiner Biografie zu entlocken. Lisa Aides und Lesli Klainberg beschäftigen sich in „Fabulous! The Story of Queer Cinema“ mit der kulturhistorischen Entwicklung des schwul-lesbischen Films und insbesondere der Darstellung homosexuellen Lebens darin. Die Dokumentation deckt dabei von der experimentellen Avantgarde der 40er bis zum „New Queer Cinema“ gut 60 Jahre Filmgeschichte ab. Barbara Hammer hingegen macht sich in „Love Other“ mit Hilfe einer Collage aus Fotos, Dokumenten und Spielszenen auf die Spuren der surrealistischen Künstlerinnen und lesbischen Widerstandskämpferinnen Claude Cahun und deren Geliebter Marcel Moore. Die einzige Ausnahme im Reigen der kunstorientierten Dokumentarfilme bildet „Wal-Mart: The High Cost of Low Price“. Robert Greenwald geht im Stil eines Michael Moore den erzkapitalistischen und menschenverachtenden Praktiken der global operierenden Supermarktkette nach.

Nach einer TV-Dokumentation über Jeff Koons widmet sich Alison Chernick in ihrem zweiten Dokumentarfilm wieder einem Gegenwartskünstler. Es war der vielseitige Performance-, Konzept- und Medienkünstler Matthew Barney selbst, der ihr sein Storyboard zu einem geplanten Film zeigte und ihr damit die Anregung zur Dokumentation des kompletten (Film-) Projektes „Drawing Restraint 9“ gab. Barney, bekannt vor allem durch seinen bildstarken Filmzyklus „Cremaster Cycle“ und in diesem Jahr auch Mitglied der Berlinale-Wettbewerbsury, erhielt von einem japanischen Kunstmuseum die Einladung zu einer Ausstellung und einem neuen Projekt. Chernick begeleitet Barney und dessen Lebensgefährtin sowie Mitstreiterin Björk bei seiner Fahrt auf einem japanischen Walfangtrawler. Barney gießt während der Fahrt aus 45.000 Pfund Petroleumgelee eine Skulptur, die von den Walfängern zerlegt wird, während Barney den Prozess filmt. Für den Ausstellungsbesucher wird dieser Film, der aus etlichen weiteren, visuell starken Episoden besteht und eine ungewöhnliche Liebesgeschichte erzählt, das letztendliche Exposé sein. Chernick gewährt durch ihre Dokumentation Einblicke in den Schaffensprozess Barneys. Ihr Protagonist gibt erstaunlich unprätentiös Auskunft über seine Motivation und die Konzepte hinter seinen Arbeiten. Für ein besseres Verständnis holt Chernick in der Mitte des Films ein wenig aus, fasst die wichtigsten biografischen Stationen Barneys zusammen und befragt Eltern, Galeristen und Kritiker. Als Jugendlicher, so der Vater, hatte Barney den Berufswunsch Schönheitschirurg gewählt, schon damals wollte er „characters and faces“ erschaffen. Der während seiner akademischen Karriere auch als Football-Profi erfolgreiche Barney setzte in seinen Arbeiten eine Philosophie des „personal best“ fort. Seine körperbetonten Arbeiten der Serie „Drawing Restraint“ basieren auf einem Konzept des bewusst gesetzten, meist körperlichen Widerstandes, seiner Überwindung und damit dem „removing restraint from the body“, so Barney.

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Kunstaktion auf dem offenen Meer: Matthew Barney (Foto: Berlinale)

Chernick gelingt nicht nur ein Portrait, sondern auch die Dokumentation eines außergewöhnlichen Kunstprojektes, seines Schöpfers, aber auch der einbezogenen Umwelt. Sie hat immer einen Blick für die mittelbare Umgebung, kleine Ausschnitte aus dem japanischen Arbeitsleben mit den für uns ungewöhnlichen Ritualen. Zwei Interview-Kommentare beschreiben sehr treffend die Sichtweise der Japaner auf das Projekt. Ein Vertreter der Walfang-Reederei gibt unumwunden zu, das Konzept des Künstlers nicht verstanden zu haben, aber trotzdem gespannt auf das Ergebnis zu sein. Und ein Besucher der späteren Ausstellung bescheinigt Barney einen ungewöhnlich klischeefreien Blick auf die japanische Kulturgeschichte und die Tradition des Walfanges. Die Problematik des japanischen Walfanges habe sie bewusst ausgeklammert, gab Alison Chernick auf der Premiere während der Berlinale bekannt. Das wäre ein anderer Film geworden.

Michel Gondry war auf der diesjährigen Berlinale mit gleich zwei Filmen vertreten: Sein dritter Spielfilm „The Science of Sleep“ lief im Wettbewerb. Mit „Dave Chappelle’s Block Party“ liefert der für seinen ausgefallenen visuellen Stil und Filmwelten mit eigenwilligen, aber logischen Gesetzmäßigkeiten bekannte Filmemacher eine unvermutet gradlinige Dokumentation ab. Stand-Up-Comedian Dave Chappelle, hierzulande durch die auf MTV ausgestrahlte „Chappelle Show“ bekannt, schmiss anlässlich einer Vertragsverlängerung seiner TV-Show eine kleine „Nachbarschaftsparty“ inklusive Live-Konzert in seinem Wohnviertel in Brooklyn. Gondry begleitet Chappelle bei den organisatorischen Vorbereitungen, den Proben mit den Musikern und bei seinem Besuch in seiner Heimatstadt Cleveland, Ohio. Dort nämlich lädt Chappelle seine ehemaligen Nachbarn und die örtliche Marschkapelle samt Cheerleadern zum Konzert. Gondry nimmt sich als Filmemacher zurück und überlässt das Feld ganz seinem gutgelaunten Protagonisten, für den bereits die Vorbereitungen zum Konzert ein einziges Freudenfest sind. Der Gute-Laune-Funke springt dann auch alsbald über und wenn das Freiluft-Konzert vor gut tausend Besuchern beginnt, dann ist man auch als Kinobesucher mittendrin. Auch hier kann Gondry die Stimmung vermitteln, Schnitt und Auswahl der Songs sowie komödiantischen Einlagen sind hervorragend gelungen. Höhepunkt des Konzertes mit u.a. Erykah Badu und Mos Def ist das Reunion Konzert der Fugees.

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Überspringender Gute-Laune-Funke auf „Dave Cappell’s Block Party“ (Foto: Berlinale)

Der Film funktioniert als Dave Chappelle Special, weniger als Portrait eines jungen Entertainers, was sicher auch nicht beabsichtigt war. Wenn Dave Chappelle mit einer Mischung aus Respekt und Schelmerei auf die Menschen in seiner Umgebung zugeht, wahrt auch der Film in seinen kleinen Ausflügen in die Nachbarschaft eine respektvolle Distanz. Der Film entlässt den geneigten Zuschauer mit rein positiver Energie und den Autor mit der Idee, doch vielleicht mal wieder eine Party mit Live-Musik zu organisieren. (dakro)

Matthew Barney: No Restraint, USA 2005, DV, Regie: Alison Chernick, mit Matthew Barney, Björk. Dave Chappell’s Block Party, USA 2005, 16mm/35mm Blow Up, Regie: Michel Gondry, mit Dave Chapell, Erykah Badu, Laureen Hill, Jean Wyclif u.a.

 

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