56. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2006
Unschuld und Sehnsucht in jungen Jahren
Lars Büchels Kurzfilm-Projekt “Nichts weiter als” in der Reihe “Perspektive deutsches Kino” auf der Berlinale
“Nichts weiter als”, ein Gedicht des Kieler Schriftstellers Arne Rautenberg, bildete die Grundlage für ein Kurzfilmprojekt unter der Leitung des Filmemachers Lars Büchel. 22 kurze Zeilen, leicht elegische Erinnerungen an vergangene Jugendzeiten, gaben vier jungen Regisseuren Möglichkeiten der filmischen Umsetzung und Interpretation in drei Kurzfilmen. Lars Büchel wurden als Kurator von der Kunststiftung HSH Nordbank 60.000 Euro zur Verfügung gestellt, die er mit weiterem Eigenkapital für ein Kunstprojekt seiner Wahl verwenden durfte, mit dem Regienachwuchs gefördert werden sollte. Büchels Projektidee basierte auf dem Grundgedanken, unterschiedliche Umsetzungen des gleichen Textausgangsmaterials zu ergründen. Nachdem er sich begabte Nachwuchsregisseure aus deutschen Filmhochschulen zusammengesucht hatte, gab er ihnen als Inspirationsquelle Rautenbergs Gedicht “Nichts weiter als” und lud sie ein, daraus jeweils einen Kurzfilm zu entwickeln und zu realisieren.
Die oft so idealisierte und romantisierte Jugendzeit ist für die Jungen meist das Gegenteil von schön. Gequält von unerfüllten Wünschen und Frustrationen. Wer kennt das nicht, wenn er sich ehrlich zurück erinnert? Friedericke Jehns Episode “Piratenleben” spricht dieses Unglücklichsein in der Jugend an, handelt vom widerspenstigen Protest gegen Ereignislosigkeit und Nichtverstehen der Elterngeneration. Allein das geheime Einverständnis mit dem Großvater bietet der jungen Hauptperson schließlich seelische Zuflucht. Mit einem Piercing in der Unterlippe schockt die 14-jährige Nora ihre Mutter und deren Freundinnen bei einer Kaffeetafel im Freien. Bei ihnen scheint sie wenig Verständnis für ihre Sehnsucht nach mehr und dem Außergewöhnlichem zu finden. Bloß im vorgeblichen senilen Großvater entdeckt Nora einen Seelenverwandten, bei dem sie sich über ihre unglückliche Jugend Luft machen kann. Beider Jugenderfahrungen finden sich im “nichts weiter als” zum Einklang.
Aus Friederikes Jehns “Piratenleben”: Nora (Sophie-Charlotte Conrad), allein verstanden vom Großvater (Dietrich Garbrecht)
Sebastian Sterns “Sonnenwende” deutet mit fragmentarischen Szenen eine vergebliche junge Liebe an. Während eine nächtlichen Dorffestes kommt der Junge Flo, der fast noch ein Kind ist und doch schon so schweigt wie ein Alter, der deutlich älteren Johanna nahe, die sich gerade von ihrem Freund getrennt hat. Kurze Momente der Unschuld und des Glücks werden mit jähem Lärmen kontrastiert, in denen sich Johannas Trauer nur kurz verstecken kann. Flo bleibt nach Johannas Absturz die Rolle des tröstenden Gefährten.
Der dritte Kurzfilm des Regisseur-Duos “le:Forel” (Lale Nalpantoglu und Jens Schillmöller) “Du und ich” lehnt seine Bilder am dichtesten an das Gedicht von Arne Rautenberg an. Naturbilder am Rande einer Trabantenstadt rahmen die Geschichte einer Freundschaft zweier junger Mädchen, die unbeschwert und unbedarft den letzten Sommer ihrer Kindheit genießen. Keine Zwänge oder Vorschriften bremsen ihre Spontaneität. Eine rote Kaugummigugel, die im Laufe des Filmes zum großen Ballon wird, folgt ihrem Treiben wie eine Chiffre der Leichtigkeit.
In Büchels Epilog verliert Fritzi Haberlandt, die das ganze Gedicht noch einmal in einer alten Gleishalle rezitiert, vielleicht wegen ihrer theatermäßigen Professionalität und der gekonnt eingesetzten filmischen Tricks ein wenig die Leichtigkeit und scheinbare unschuldige Absichtslosigkeit, die die vorangegangenen drei Filme auszeichnet. (Helmut Schulzeck)
“Nichts weiter als”, D 2006, 25 Min., Regie: Friedericke Jehn, Sebastian Stern, Jens Schillmöller, Lale Nalpantoglu, Lars Büchel. Der Film hat auf der Berlinale in der Reihe “Perspektive Deutsches Kino” am 16.2.2006, 16 Uhr im CinemaxX 6 am Potsdamer Platz seine Premiere und wird am gleichen Tag im CinemaxX 3 um 21 Uhr und am 17.2., 20 Uhr im CinemaxX 1 wiederholt.