56. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2006
Leinwandgroße Gefühle in der Provinz
„Sehnsucht” (Valeska Grisebach, D 2005)
Valeska Grisebachs zweiter Spielfilm nach „Mein Stern“ ist mehr als ein im Brandenburgischen angesiedeltes Melodram der „Berliner Schule“. Es ist eine Suche nach den großen Gefühlen im „kleinen“, unspektakulären Leben. Mit nach monatelanger Suche gecasteten Laiendarstellern und gedreht in der 200 Seelen-Gemeinde Zühlen bei Neuruppin setzt Grisebach auf Authentizität und Reduktion, um die Sehnsucht ihrer Protagonisten fast greifbar zu machen.
Markus (Andreas Müller) und Ella (Ilka Welz) sind ein glückliches Ehepaar und fest in der Dorfgemeinschaft verwurzelt. Er ist Schlosser und in der freiwilligen Feuerwehr, sie arbeitet als Haushaltshilfe und singt im Chor. Markus wird ungewollt Zeuge eines Doppelselbstmordes als er die Opfer eines Autounfalls retten will. Der Schock sitzt tiefer, als Markus es wahrhaben will. Auf dem Kameradschaftsabend während einer Wochenendschulung der freiwilligen Feuerwehr betrinkt er sich und wacht am nächsten Morgen neben der Kellnerin Rose (Anett Dornbusch) auf. Es bleibt nicht bei einer Nacht, Markus lässt sich auf ein gefährliches Spiel ein. Als er die Affäre nach mehreren Wochen beenden will, stürzt Rose vom Balkon. Ella trennt sich von Markus, der daraufhin versucht, sich das Leben zu nehmen.
Andreas Müller in „Sehnsucht“ (Foto: Berlinale)
Die Darsteller für ihre Dreiecksgeschichte hat Grisebach nach halbjährigem Casting gefunden. Zunächst wollte sie mit Schauspielern arbeiten, entschied sich jedoch anders. „Ich dachte, dass gerade dieser Film durch die Zusammenarbeit mit Laiendarstellern, die ihre Erfahrung und ihre körperliche Präsenz in eine fiktive, melodramatische Geschichte einbringen, an Schärfe und Präzision gewinnen kann“, so Grisebach. Das funktioniert deshalb so gut, weil die Darsteller ihren Figuren sehr nahe sind, zumindest was die Lebensumstände angeht. Ihr Spiel wurde sehr reduziert inszeniert, Dialoge wurden nicht auswendig gelernt, sondern zuvor mündlich verhandelt und die Szenen ausführlich geprobt. Da die Interaktion sich praktisch nur zwischen Markus und Ella sowie Markus und Rose abspielt, sind die weiteren Darsteller auch nicht mit ihrer Aufgabe überfordert. Die Rechnung geht auf. Leinwandgroße Gefühle lassen sich auch in der deutsche Provinz erzählen.
Der ruhige Fluss und der mikroskopische Blick auf die Figuren ist dabei nicht nur Attitüde, sondern notwedig, um die kleinen Veränderungen wahrzunehmen, die letztendlich zum Erdrutsch im Leben von Markus, Ella und Rose führen. Wenn die Kamera während des Kameradschaftsabends auffällig lange auf dem selbstverloren tanzenden Markus verweilt und Robbie Williams dazu singt „’cause I got so much life, running through my veins, going to the waste“, vermittelt sie die innere Spannung der Figur. Markus kann diese Sehnsucht nach Leben nicht auflösen, wahrscheinlich nicht einmal benennen. Sie wird ihn ins Verderben reißen. Dass sich hier ein klassisches Drama anbahnt, deutet Grisebach schon mit der Erwähnung von Shakespeares „Romeo und Julia“ an. Fast wie der kommentierende Chor im griechischen Drama mutet es an, wenn am Ende des Films die Kinder des Dorfes die Geschichte von Markus nacherzählen und sich fragen, ob sie auch so gehandelt hätten. Grisebach geht also den großen Fragen nach. Und die Antworten lassen sich auch im Brandenburgischen finden.
„Sehnsucht“ ist ein Film für die große Leinwand, hier darf man sich nicht täuschen. Nur weil die Produktionen des „Kleinen Fernsehspiels“ im Spätprogramm versendet werden, heißt das nicht, dass sie hier am besten aufgehoben sind. Die Aufmerksamkeit, die dem Film als Wettbewerbsbeitrag zuteil wird, führt hoffentlich zu einer Auswertung im Kino. (dakro)
Sehnsucht, D 2005, 88 Min., 35 mm. Buch, Regie: Valeska Grisebach, Darsteller: Andreas Müller, Ilka Welz, Anett Dornbusch u.a.