56. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2006
Lebens(nase)weisheiten eines Lebensversicherers
„Der Lebensversicherer“ (Bülent Akinci, D 2006)
Der Mann steht unter Druck: schon in der ersten Szene flieht Burkhard Wagner (Jens Harzer) aus seiner Zelle. Seine Gefängnis ist sein Auto. Und die Flucht ist eigentlich unmöglich, wenn das Auto in der Waschstraße steckt. Doch Burkhards klaustrophobische Panikattacke ist stärker, er stemmt sich gegen die Putzstreifen aus der Wagentür und taumelt dem Licht am Ende des Tunnels entgegen.
Jens Harzer in „Der Lebensversicherer“ (Foto: Berlinale)
Wagner, omen est nomen, ist als Versicherungsagent auf den Autobahnen Deutschlands unterwegs. Er gehört zu den Zombies der Schnellstraßen, den Benzin-Vampiren, die sich nachts an der Zapfsäule verstohlen sehnsuchtsvolle Blicke zuwerfen oder schnell wegschauen. Er kennt die Menschen, die entweder auf der Straße oder von der Straße leben: das Aussteigerpärchen im Wohnmobil, die Besitzerin des Raststättenrestaurants, der Brummi-Fahrer. Er hat so seine kleinen Tricks und Kniffe, Hartnäckigkeit und ein saublödes, fast hysterisches Lachen an den richtigen Stellen. Aus gutem Grund hat er ein feines Gespür für das, wonach es den Menschen verlangt: Sinn, Sicherheit und Geborgenheit. Das lässt sich mit persönlichen Gespräch, Lebensweisheiten aus Spruchbänden und einer Lebensversicherung zumindest zeitweilig und oberflächlich substituieren.
Wagner ist vereinsamt, seine Anrufe bei Frau und Kind bleiben unbeantwortet. Hört sie überhaupt jemand? So bleiben die einzigen menschlichen Kontakte für ihn seine Kunden, denen er auch schon mal von einer Versicherung abrät, weil sie teuer wäre. Dem suizidwilligen Brummi-Fahrer gibt er Tipps, damit „am Ende nicht alles umsonst war“.
Wenn die Sehnsucht zu stark wird, schleicht er der geheimnisvollen Pensionsbesitzerin nach, traut sich aber nie, in ihre Tür zu treten: „Als was? Als Vertreter, als verlorener Mann oder als Gast?“ Alles wäre, aber nichts davon möchte er sein. Caroline, verlassene, alleinerziehende Mutter, geht schließlich auf ihn zu. Auch für sie ein schwerer Schritt aus ihrer emotionalen Deckung zu kommen, glaubt sie doch auch nicht so recht daran, dass er bleiben wird.
Regisseur Bülent Akinci bringt Erfahrung aus der eigenen Vita in die Geschichte ein. Vor seinem Studium an der DFFB war er u.a. auch als Versicherungsvertreter unterwegs. Doch „Der Lebensversicherer“, sein Abschlussfilm an der DFFB und co-produziert vom Kleinen Fernsehspiel des ZDF, hat keinen dokumentarischen Ansatz, ist keine um Authentizität bemühte Berufsstudie, wie der Titel es vermuten lässt. Eine verlorene Seele, gefangen in der Vorhölle, den nasskalten Straßen unserer Autobahnen, ist auf der Suche nach Erlösung. 54 Verträge muss Wagner abschließen, bevor er zurück ins Paradies darf.
Jens Harzer spielt den Wagner hervorragend zwischen dem abgeklärten Vertriebsschwein und dem Verzweifelten mit einem Schuss Schießbudenfigur. Man wäre selbst genervt von diesem hartnäckigen Sprücheklopfer und doch schaffen Akinci und Harz eine zunehmend sympathische, glaubwürdige, tragfähige Figur. Akinci und Kameramann Henner Besuch finden immer wieder stimmige Bilder für die Gemütsverfassung ihres Helden, so die eingangs beschriebene Szene in der Waschstraße oder wenn sich Wagner mit feinem Nebel des „ewigen Duftes“ aus einer Flasche Channel-Plagiat die Illusion von weiblicher Nähe erzeugt. Ein wenig mehr dramatische Entwicklung und dafür etwas weniger Wiederholung der Illustration von Wagners Einsamkeit wäre wünschenswert. Denn nach dem, was Wagner durchleidet, wünscht man sich einen Silberstreif am Horizont doch etwas breiter. (dakro)
Der Lebensversicherer, D 2006, 100 Min., 35 mm. Buch, Regie: Bülent Akinci, Darsteller: Jens Harzer, Marina Galic, Tom Jahn, Mehdi Nebbou, Eva Mannschott