56. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2006

Kein Fenster zum Hof

„Vier Fenster“ (Christian Moris Müller, D 2005)

Fenster kommen in Christian Moris Müllers Erstling eigentlich kaum vor. Wenn, dann hinter unglaublich dicken Vorhängen. Gleich zu Anfang blickt man allerdings tatsächlich durch das Fenster einer trostlos zerkratzten orangen Fahrstuhltür mitten ins Geschehen: in ein Mietshaus im Berliner Wedding. Dort wohnt eine – namenlose – Familie: Vater, Mutter, zwei Kinder. Die Tochter ist schon ausgezogen, wohnt jetzt zwei Stockwerke höher. Ihr Gespiele verlässt sie nach dem Frühstück; man erfährt: es ist ihr Vater.

Türen gibt es schon mehr in „Vier Fenster“: Wohnungstüren zum Treppenhaus, U-Bahn-Türen (U6 Seestraße), die nie ganz geschlossenen Türen von Peep-Show-Kabinen, in denen der Sohn (Frank Droese) Zuflucht sucht. Seine dort gefundene männliche Zufallsbekanntschaft trifft er am gleichen Abend ebenso zufällig in einem Lokal wieder, aber der Typ scheint kein erneutes Interesse zu haben: wirkliche Beziehungen sind nicht möglich.

Die Mutter hängt den halben Tag im blauen Bademantel herum und begluckt (nicht beglückt) die Kinder, verherrlicht sie, obwohl dies jeder Beschreibung spottet. Vom Inzest in der eigenen Familie scheint sie nichts zu merken, genauer: nichts merken zu wollen! Margarita Broichs charakteristisches kraftvolles Lachen wirkt wunderbar neurotisch, sie schafft es, dass ihre Sinnlichkeit verbraucht wirkt.

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Margarita Broich als gluckende Mutter in „Vier Fenster“ (Foto: Berlinale)

Der Vater: Thorsten Merten, ein – inzwischen arbeitsloser – Polizist, sympathisch und schwach. Weiß wenig mit sich anzufangen, hängt viel zuviel in der U-Bahn herum. Er könne doch mal kochen, wo er jetzt so viel Zeit habe, meint die Tochter. Theresa Scholze: die ewige Tochter. Freitagabend-Fernsehgucker kennen sie als Anna, Tochter des Gerichtsmediziners Robert Kolmar. Sie hat eine wunderschöne Altstimme und ebensolche Kulleraugen, auch in „Vier Fenster“. Natürlich auch dann, als sie in der U-Bahn fremden Männern mit vulgären Worten ihre Liebesdienste anbietet. Hübsch wie sie ist, ziert ihr Gesicht das Filmplakat.

Die Viererkonstellation mit Mertens Beteiligung erinnert unweigerlich an „Halbe Treppe“. Doch anders als dort findet in „Vier Fenster“ keine Entwicklung statt. Die Familienzwänge, die „düsteren“ Geheimnisse eines jeden – vom So-gut-wie-Gelegenheitsfick des Vaters bis zur Handwerker-Anmache der Mutter – scheinen gleichsam zementiert, sind einfach da, kommen nirgendwo her und entwickeln sich nicht weiter. Allenfalls Tochter und Sohn lassen auf anderes hoffen: Zum Schluss laufen sie gemeinsam – zwar nur zum Bus Nr. 53, aber das bedeutet viel. „Schaffen wir es?“ hallt die letzte Frage des Filmes nach.

„Vier Fenster“ erzählt von der Eingeschlossenheit eines jeden, der Unmöglichkeit sich wirklich auszutauschen, der Verlogenheit insbesondere der Familie. Sexualität geschieht stets isoliert. Der Film spielt sich zu Teilen vor Urinalen und in Pornoläden ab – viele Szenen sind trostlos bis eklig, verstörend eben, aber das möchte er ja gerade bewirken. Doch er setzt noch andere Akzente: eine Nicht-Ästhetik, mit viel Halbdunkel und bräunlich-grauen Farbtönen in der Ausstattung, unerbittlich starre Kameraperspektiven. Die vier (!) Kapitel des Films sind eigentümlich strukturiert, der Anfang des Folgekapitels liegt noch im vorher gehenden, so dass der Zuschauer immer wieder neuer Brüche gewahr wird. Die überdeutliche Symbolik all dessen und der düster verhangenen Kleinstwohnungen und abgeschotteten Kabinen ist auf die 80 Minuten-Dauer allerdings ein Ärgernis.

„Vier Fenster“ ist ein Debütfilm und unter diesem Aspekt kann man ihn sehen, quasi als Diskussionsmodell. Trotzdem wird man von solch statischer Trostlosigkeit wohl entweder überrannt, oder kann „Vier Fenster“ trotz der guten schauspielerischen Leistungen nicht ernst nehmen. (gls)

Vier Fenster, D 2005, 80 Min., 35 mm. Buch, Regie: Christian Moris Müller, Darsteller: Margarita Broich, Frank Droese, Thorsten Merten, Theresa Scholze u.a.

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