56. Internationale Filmfestspiele Berlin – Berlinale 2006

Jüngstes Kammergericht

„Der Kick“ (Andres Veiel, D 2006)

13. Juli 2002 im brandenburgischen Potzlow: Der 16-jährige Marinus Schöberl wird von den nur wenig älteren Brüdern Marcel und Marco Schönfeld und deren Kumpel Sebastian Fink über mehrere Stunden brutal misshandelt, schließlich nach dem Vorbild des „Bordsteinkicks“ aus dem Ghettofilm „American History X“ geradezu hingerichtet und in der Jauchegrube eines Schweinestalls verscharrt. Diesen so genannten „Skinhead-Mord von Potzlow“, der seinerzeit Aufsehen und Entsetzen erregte, hat Andreas Veiel anhand der Vernehmungsprotokolle der jugendlichen Mörder bereits für ein Zweipersonenstück am Berliner Maxim-Gorki-Theater rekonstruiert, jetzt legt er die Filmfassung vor.

In eine in blaues Dämmerlicht getauchte leere Fabrikhalle stellt Veiel seine beiden Schauspieler Susanne-Marie Wrage und Markus Lerch, die bereits im Theaterstück den Protokollen Rolle und Stimme verliehen. Wenige wechselnde Spotlights auf die Gesichter und eine fahrbare neon-erleuchtete „Vernehmungsbühne“ genügen als Markierung für den Wechsel der Szenen und der Sprechenden, in deren Rollen die Schauspieler schlüpfen. Letzteres so antiillusionistisch gestisch, wie es Brechtsche Lehrstücke vorschreiben.

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Lehrstück in kühl sezierendem Blau: Susanne-Marie Wrage und Markus Lerch in „Der Kick“ (Foto: Berlinale)

In der Tat ein bewusst sprödes Lehrstück (fraglich allerdings, warum das nach der Bühne auch in den Film gebracht werden musste), denn anders kann man sich der Ungeheuerlichkeit des mehr beschriebenen als dargestellten Tathergangs kaum nähern, wollte man nicht den moralisierenden Zeigefinger erheben. Weit entfernt von Wertung oder womöglich einen „Aufstand der Anständigen“ einzufordern, seziert Veiels Inszenierung den Fall buchstäblich „anti-lichterkettend“. Die Täterprotokolle lassen nämlich kein wirkliches Motiv erkennen. Zwar gehörte das Opfer zur Hiphop-Szene, weniger zu der der befreundeten Skinheads, war zudem sprachbehindert, doch solche „Opfermuster“ rechtsextremistisch motivierter Gewalttaten lassen sich dennoch nur schemenhaft ausmachen.

Vielleicht gerade deshalb war das Entsetzen über diesen „grundlosen“ Mord seinerzeit so einhellig und groß. Veiel vermeidet es gleichwohl, er will beim Zuschauer kein Entsetzen, keine Empörung und schon gar kein Mitgefühl erzeugen. Die karge Szenerie für dieses Gerichtskammerspiel hilft vielmehr bei der Erkenntnis der eigentlichen Ursache der Tat: Emotionslosigkeit bis zur emotionalen Legasthenie, die Unfähigkeit zum Mitleid. Der Zuschauer, den die Schauspieler mit meist direktem Blick in die Kamera ansprechen, wird auf die Rolle des Verhörenden und des bekanntlich zur Unparteilichkeit verurteilten Richters zurückgeworfen.

Ursachenforschung – das präzise gezeichnete Psychogramm von Tätern und Opfer zeigt ferner, dass selbst ein herkömmliches Täter-Opfer-Schema nicht greift, vielmehr die Tat sich in einem Raum frei von Werten und Urteilen abgespielt hat, zwar beschreibbar, aber nicht begreifbar und in diesem Sinne wiederum im urspünglichen Wortsinne „tragisch“. Das Opfer Marinus war „zur falschen Zeit am falschen Ort“, die Täter suchten sich ein quasi beliebiges Opfer.

Veiel führt das mit einer fast schon unmenschlich wirkenden Akribie vor. Wenn Susanne-Marie Wrage zu den von Bühnenpartner Lerch zitierten, hilflos nach „Sinn“ suchenden Grabreden für Marinus den Bach-Choral „O Haupt voll Blut und Wunden“ summt, ist das eine Schlüsselszene für einen Film, der wie schon das Theaterstück dem Grauen mit der Kühle sezierender Vernunft begegnet und genau darin die Ohnmacht – auch der Täter – gegenüber dem „Ereignis“ Tat bestürzend deutlich zeigt. Ein „jüngstes Gericht“, wahrlich. (jm)

Der Kick, D 2006, 82 Min., 35 mm. Regie: Andreas Veiel, Buch: Andreas Veiel, Gesine Schmidt, Darsteller: Susanne-Marie Wrage, Markus Lerch

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